Der § 239a StGB ist eine Art juristisches Chamäleon: Er schützt sowohl die Freiheit des Menschen, den es erwischt hat, als auch die desjenigen, der danach unter Druck gesetzt wird. Anders gesagt: Es geht hier nicht nur um das Opfer, das entführt oder festgehalten wird, sondern auch um denjenigen, der im Anschluss zur Kasse gebeten wird.

Wir haben: Alt. 1: Das klassische „Ich entführe Dich oder bemächtige mich Deiner“ – also der Entführungs- und Bemächtigungstatbestand. Alt. 2: „Ich habe Dich zwar nicht mit Erpressungsabsicht gepackt, nutze die Lage jetzt aber für genau das.“ – Das ist der Ausnutzungstatbestand. Die Unterschiede? Die stecken im Kopf des Täters – also im subjektiven Tatbestand, speziell bei der Absicht. Aber auch da sind sich beide Varianten wieder ähnlich: Egal ob Zwei- oder Drei-Personen-Verhältnis, am Ende soll jemand (anders als bei der Geiselnahme) zur Herausgabe von Geld gedrängt werden.

Entführen

Los geht’s mit Alt. 1.

Ein Entführen liegt vor, wenn zwei Dinge zusammenkommen: Erstens wird das Opfer an einen anderen Ort gebracht, und zweitens bringt diese Ortsveränderung das Opfer in eine hilflose Lage.

Hilflos bedeutet: Das Opfer ist der Situation ausgeliefert, kann sich nicht mehr selbst schützen. Wichtig: Diese Ortsveränderung passiert entweder gegen den Willen des Opfers oder ohne dessen Wissen und Einverständnis.

Wer also mit List oder Gewalt arbeitet – oder sogar beides –, der kann hierunter fallen. List heißt: Der Täter verschleiert geschickt seine wahren Absichten. Zum Beispiel, indem er das Opfer mit einem harmlosen Vorwand ködert. Einverstanden ist das Opfer dann nur, wenn es wirklich weiß, worauf es sich einlässt – keine Tricks, kein Verschweigen.

Sich-Bemächtigen

Alt. 2 braucht keine Reise. Wer sich eines Menschen bemächtigt, der greift sich dessen Körper und sagt sinngemäß: „Ab jetzt bestimm’ ich.“

Dabei reicht es, wenn das Opfer physisch kontrolliert wird – auch wenn das Strafrecht hier nicht gleich mit § 239 Abs. 1 StGB winkt.

Beispiele gefällig? Ein Bankräuber sperrt Kunden ein, um den Kassierer gefügig zu machen. Ein Unternehmer wird zu Hause gefesselt, weil man auf ein Lösegeld wartet. Auch das bloße In-Schach-Halten mit einer (scheinbar) geladenen Waffe reicht. Oder: Ein Täter „begleitet“ sein Opfer bewaffnet zum Geldautomaten – na klar, das ist Bemächtigung. Selbst wenn jemand sich „freiwillig“ als Geisel anbietet (z. B. ein Polizist im Austausch für Zivilisten), liegt trotzdem ein Sich-Bemächtigen vor. Anders sieht’s bei Fake-Geiseln aus, wenn Opfer und Täter zusammenarbeiten und alles nur inszenieren – das ist dann keine echte Lage.

Ohne Erpressungsabsicht

Diese Variante (Alt. 2) klingt sperrig, meint aber Folgendes: Der Täter hat jemanden gepackt – sei es durch Entführen oder Bemächtigen –, aber zu diesem Zeitpunkt noch keine Erpressungsabsicht gehabt. Erst später kommt ihm der Gedanke: „Moment, das könnte ich doch auch für Geld nutzen!“

Beispiele: Der Täter entführt eine Frau aus Lust und Laune – später will er Lösegeld. Die Täter kapern das Auto der E, um zu fliehen, und zwingen sie mitzufahren. Unterwegs kommt ihnen die Idee, auch noch Spritgeld zu erpressen.

Wichtig: Die Erpressung muss tatsächlich versucht werden – also keine bloße Absicht, sondern ein reales Ansetzen zur Tat. Die Lage, die beim Entführen oder Bemächtigen entstanden ist, muss noch bestehen, wenn die Erpressung startet. Ist das Opfer tot oder frei, ist auch die Zwangslage passé.

Und ob jetzt Versuch oder Vollendung nötig ist, darüber streiten sich die Geister. Die wohl herrschende Meinung sagt: Der Versuch reicht. Eine andere Meinung verlangt mehr. Aber das Argument, der Gesetzeswortlaut spreche gegen den Versuch, ist eher schwach – schließlich umfasst „Erpressung“ im Gesetz oft auch den Versuch.

Erpressungsabsicht

Jetzt kommt der Clou: Der Täter will nicht einfach nur jemandem die Freiheit nehmen – er will das Ganze nutzen, um etwas zu erzwingen. Dabei kann er entweder das Opfer selbst (Zwei-Personen-Verhältnis) oder einen Dritten (Drei-Personen-Verhältnis) unter Druck setzen.

Klassiker im Drei-Personen-Verhältnis: Das Kind wird entführt, um von den Eltern Geld zu bekommen. Oder: Bankkunden werden bedroht, um an die Kasse ranzukommen.

Nötigungsmittel

Die Mittel zur Erpressung müssen den klassischen Nötigungs-Tatbeständen entsprechen. Also Gewalt, Drohung mit einem empfindlichen Übel usw.

Zeitlicher Zusammenhang

Zwischen der Tat (Entführen/Bemächtigen) und dem Erpressungsversuch muss ein enger zeitlicher Zusammenhang bestehen. Der Täter muss die Lage also nutzen, solange sie besteht. Das steht auch so im Wortlaut: „ausnutzen der Lage“. Wenn das Opfer längst frei ist und dann erst erpresst wird, liegt kein Fall von § 239a Abs. 1 StGB mehr vor.

Der BGH nennt das übrigens den „funktionalen und zeitlichen Zusammenhang„. In der Praxis wird das oft bei Zwei-Personen-Verhältnissen diskutiert – aber auch bei Drei-Personen-Konstellationen gilt: Ist die Lage vorbei, ist § 239a StGB raus.

Beispiel: Ein Kind wird entführt, dann freigelassen, danach fordern die Täter Geld. Das ist keine Nutzung der bestehenden Lage mehr – sondern eine neue Drohung, und § 239a StGB greift nicht.

Erstrebter Nötigungserfolg

Der Täter will also ans Geld – oder zumindest an einen geldwerten Vorteil. Und das nicht irgendwie, sondern durch eine echte Erpressung im Sinne des § 253 StGB (Vermögensverfügung bzw. Duldung der Vermögensschädigung). Also Drohung, Zwang, und das Ziel: Jemand soll zahlen, etwas herausgeben oder einen Schaden dulden.

Die Tat ist schon vollendet, wenn diese Absicht bei der Tathandlung vorliegt – also beim Entführen oder Bemächtigen. Ob später tatsächlich erpresst wird oder nicht, ist für die Vollendung erst einmal egal.

Wichtig: Die angestrebte Bereicherung muss rechtswidrig sein. Wer mit einer Entführung nur eine berechtigte Forderung eintreiben will (z. B. einen fälligen Lohn), erfüllt nicht den Tatbestand des § 253 StGB – und damit auch nicht den des § 239a StGB.

Übrigens: Auch wenn’s keine Erpressung im engeren Sinne ist, kann unter Umständen § 239b StGB greifen – zum Beispiel bei Geiselnahme ohne Erpressungsabsicht.

Zwei- oder Drei-Personen-Verhältnis

Stell Dir vor, jemand wird überfallen. Die Täter bedrohen ihn mit einer Waffe, zwingen ihn zur Herausgabe seines Geldes, und lassen ihn danach zurück. Nichts Ungewöhnliches – zumindest nicht für das Strafrecht. Was aber, wenn sich in solchen Fällen plötzlich § 239a StGB aufdrängt, mit seiner happigen Mindeststrafe von fünf Jahren? Das ist genau das Problem, wenn man § 239a StGB auf klassische Zwei-Personen-Konstellationen anwendet. Und weil das zu Ergebnissen führen kann, die nicht so recht ins System passen wollen, ist Vorsicht geboten.

Der Wortlaut von § 239a StGB ist schnell zitiert: Es geht um das Sich-Bemächtigen oder Entführen einer Person mit dem Ziel, durch diese Lage eine Erpressung oder Nötigung zu begehen. Nun haben wir aber ein Problem: Viele ganz klassische räuberische Erpressungen beinhalten doch bereits ein Sich-Bemächtigen – also zum Beispiel, wenn jemand bei einem Überfall an Hals und Schultern gepackt oder mit einer Pistole bedroht wird. Und zack, sieht es plötzlich so aus, als wäre § 239a StGB einschlägig. Dabei war doch eigentlich nur ein typischer Raub geplant.

Beispiele gefällig? Zwei Täter lauern einem Bankfilialleiter nach Feierabend auf und zwingen ihn unter vorgehaltener Waffe, den Tresor zu öffnen. Ein Passant wird von hinten gepackt und mit einer Schnur gewürgt, damit er seine Geldbörse herausrückt. Überfälle, bei denen das Opfer mit einer (auch ungeladenen) Schusswaffe bedroht und zur Herausgabe von Geld genötigt wird. Das alles sind Fälle, in denen man – wenn man den § 239a StGB allzu wörtlich nimmt – zu sehr hohen Strafen käme, obwohl es eigentlich um „klassische“ Gewalt- und Vermögensdelikte geht. Und genau deshalb bremst die herrschende Meinung hier zu Recht. Sie sagt: Nein, so einfach ist das nicht. § 239a StGB muss im Zwei-Personen-Verhältnis enger verstanden werden. Denn sonst passiert Folgendes:

Die Erpressung, die eigentlich in § 255 StGB zuhause ist, rutscht still und heimlich in den Schatten von § 239a StGB. Das führt zu Strafrahmen, die der Gesetzgeber vermutlich gar nicht im Blick hatte. Und wer einen Rücktritt vom Versuch (§§ 255, 22 StGB) schaffen will, hat es plötzlich schwerer – denn bei § 239a StGB ist die Vollendung viel früher erreicht.

Die Rechtsprechung hat diese Diskussion ziemlich klar eingeordnet. Sie hat nämlich gesagt: Wenn wir schon zwei Tatabschnitte in § 239a StGB haben – erst das Sich-Bemächtigen, dann die Erpressung – dann muss zwischen diesen beiden auch ein echter funktionaler Zusammenhang bestehen. Es reicht nicht, dass das eine zufällig auch irgendwie das andere ist.

Heißt konkret: Der Täter muss die durch das Sich-Bemächtigen geschaffene Lage bewusst ausnutzen wollen, um das Opfer zu erpressen. Die beiden Akte – das Gewaltmoment und die Vermögensforderung – dürfen also nicht deckungsgleich sein. Anders gesagt: Wenn das Vorhalten der Waffe gleichzeitig sowohl das Sich-Bemächtigen als auch die Nötigung darstellt, fehlt es an einer eigenständigen Bedeutung der Bemächtigungslage – und damit am Anwendungsbereich des § 239a StGB.

Dieser Gedanke hat Folgen für viele Alltagssituationen im Strafrecht. Gerade dann, wenn alles sehr schnell geht, wenn also die Bedrohung, das Festhalten und die Geldforderung in einem Rutsch passieren, dann ist § 239a StGB außen vor. Die Rechtsprechung spricht dann von einer „identischen Nötigung„. Solange das Mittel, mit dem sich jemand bemächtigt, gleichzeitig zur Erpressung eingesetzt wird, fehlt die nötige Eigenständigkeit.

Erst wenn sich aus dem ersten Akt – dem Festhalten, dem Isolieren, dem „Ich hab Dich jetzt in meiner Gewalt!“ – eine gewisse Stabilität entwickelt, also eine Lage, die über ein paar Sekunden hinausgeht und wirklich zur Grundlage für weitere Nötigungen wird, kommt § 239a StGB wieder ins Spiel. Dann sprechen wir von einer „stabilen Zwischenlage„.

Ein Beispiel dafür: Zwei Täter dringen in die Wohnung eines Opfers ein, bedrohen es mit einem Messer und setzen sich mit ihm auf das Sofa – einer links, einer rechts. Diese Lage besteht eine Weile, bevor sie weitere Gewalt anwenden, um Geld zu erpressen. Hier hat sich die Bedrohungslage stabilisiert. Sie dient als eigenständige Plattform für die zweite Eskalation – und genau das ist es, was § 239a StGB meint.

Genauso läuft es übrigens bei typischen Entführungsfällen: Dort ist die geschaffene Lage fast immer stabil genug, um als Grundlage für spätere Forderungen zu dienen. Deshalb gilt auch dort § 239a StGB regelmäßig ohne Einschränkung.

Natürlich ist das mit der Stabilisierung kein Automatismus. Die Übergänge sind fließend, und es bleibt eine Auslegungsfrage, wann eine Bemächtigungslage „lang genug“ besteht oder „stabil genug“ ist. Aber die Rechtsprechung hat hier eine brauchbare Linie gezogen – und das ist mehr, als man von vielen dogmatischen Konstruktionen sagen kann.

Ganz anders sieht es aus, wenn nicht nur Täter und Opfer, sondern auch noch eine dritte Person ins Spiel kommt (Drei-Personen-Verhältnis). Dann, so sagt der BGH, ist die Lage meistens ohnehin „stabil“ genug. Denn hier geht es regelmäßig darum, dass jemand bemächtigt wird, um auf andere Druck auszuüben – und allein diese Struktur bringt schon eine gewisse Eigenständigkeit mit sich.

Typisches Beispiel: Ein Geiselnehmer bedroht Bankkunden mit einer Waffe, um das Sicherheitspersonal oder die Polizei zu einer bestimmten Handlung zu zwingen. In solchen Fällen liegt in dem Sich-Bemächtigen der Geisel bereits eine eigenständige Drohkulisse, die über das hinausgeht, was man bei einer normalen Zwei-Personen-Erpressung hätte. Das verdient eine andere Bewertung – und deshalb greift § 239a StGB hier in der Regel ohne teleologische Reduktion.