Schauen wir uns jetzt die Rechtsquellen des Arbeitsrechts gemeinsam an.
Rangprinzip und Günstigkeitsprinzip
Wenn sich im Arbeitsrecht verschiedene Rechtsquellen ins Gehege kommen, gilt zunächst das gute alte Rangprinzip: Das Höherrangige schlägt das Niederrangige – so weit, so logisch.
Aber das Arbeitsrecht wäre nicht das Arbeitsrecht, wenn es dabei stehen bliebe. Denn hier gilt zusätzlich das Günstigkeitsprinzip: Steht in der niedrigeren Norm etwas, das für Dich als Arbeitnehmer besser ist, dann setzt sich diese durch. Klingt nach Regelbruch, ist aber Methode – schließlich will das Arbeitsrecht Dir Mindestschutz geben, ohne Dich daran zu hindern, freiwillig noch bessere Konditionen rauszuholen.
Besonders deutlich zeigt sich das in § 4 Abs. 3 TVG: Abweichungen vom Tarifvertrag sind erlaubt, wenn sie zugunsten des Arbeitnehmers laufen. Das Ganze ist also kein exotischer Sonderfall, sondern ein Grundgedanke des Arbeitsrechts. Heißt aber auch: Du musst immer doppelt prüfen – erst den Rang der Norm und dann, ob sie zwingend, halbzwingend oder dispositiv ist.
Arbeitsrechtliche Normenpyramide
Sehen wir uns die Pyramide mal von oben nach unten an:
Unionsrecht
Ganz oben thront das Unionsrecht. Und hier musst Du unterscheiden: EMRK und ESC sind eigentlich „nur“ völkerrechtliche Verträge des Europarats (nicht der EU), genießen aber immerhin Bundesrechtsrang.
Viel wichtiger ist jedoch das EU-Recht selbst. Das Primärrecht (EUV, AEUV, GRC) wirkt wie eine Art Verfassung der EU. Da findest Du z. B. Arbeitnehmerfreizügigkeit (Art. 45 AEUV), Entgeltgleichheit (Art. 157 AEUV) oder das Recht auf Urlaub (Art. 31 GRC). Problem: Das meiste ist ziemlich abstrakt formuliert und braucht Konkretisierung.
Das liefert das Sekundärrecht: Verordnungen wirken sofort in jedem Mitgliedsstaat, Richtlinien müssen erst in nationales Recht umgesetzt werden. Und genau da hakt es oft: Wird eine Richtlinie nicht rechtzeitig umgesetzt, gilt sie zwar vertikal gegenüber dem Staat (also z. B. beim öffentlichen Arbeitgeber), aber nicht direkt zwischen Privaten. Für Dich als Arbeitnehmer heißt das: Du kannst Dich bei einem privaten Arbeitgeber in der Regel nicht direkt auf eine bloße Richtlinie berufen. Gerichte müssen aber versuchen, nationales Recht richtlinienkonform auszulegen. Gelingt das nicht, kann der EuGH im Zweifel per Vorabentscheidungsverfahren helfen.
Grundgesetz
Jetzt wird’s deutsch: Das GG bindet in erster Linie den Staat. Im Verhältnis Arbeitgeber und Arbeitnehmer gilt es also nicht unmittelbar, sondern nur mittelbar über Generalklauseln (§§ 138, 242 BGB) und unbestimmte Rechtsbegriffe.
Trotzdem: Dein Arbeitgeber muss bei Weisungen die Grundrechte respektieren. Beispiel: Religionsfreiheit (Art. 4 GG) – Kopftuchverbote sind nur erlaubt, wenn andere Schutzgüter wirklich in Gefahr sind. Oder Rückzahlungsklauseln für Fortbildungskosten – die dürfen Dich nicht ewig knebeln, weil Art. 12 GG Deine Berufswahlfreiheit schützt.
Gesetzesrecht
Danach kommen die vielen arbeitsrechtlichen Spezialgesetze: KSchG, BUrlG, EFZG, TzBfG usw. Ein Arbeitsgesetzbuch gibt es (noch) nicht. Wichtig: Das meiste hier ist halbzwingend. Übersetzt: Du kannst nicht zu Deinen Ungunsten abweichen, wohl aber zugunsten.
Kollektivverträge
Tarifverträge und Betriebsvereinbarungen bilden die nächste Stufe. Das Besondere: Sie wirken unmittelbar und zwingend, also wie Gesetze, auch wenn Du gar nicht direkt am Vertrag beteiligt bist.
Tarifvertrag
Die Idee ist simpel: Weil der Einzelne im Arbeitsvertrag schwächer ist, sollen Gewerkschaften das Machtungleichgewicht durch kollektives Handeln ausgleichen. Das Ganze läuft unter dem Schlagwort Tarifautonomie (Art. 9 Abs. 3 GG). Gewerkschaften und Arbeitgeber(-verbände) können Tarifverträge schließen – und die haben zwei Teile:
- der schuldrechtliche Teil regelt die Pflichten der Tarifparteien untereinander,
- der normative Teil enthält die eigentlichen Rechtsnormen für die Arbeitsverhältnisse (z. B. Löhne, Urlaub, Kündigungsfristen).
Und diese Normen gelten für alle tarifgebundenen Arbeitgeber und Arbeitnehmer direkt und zwingend.
Damit das funktioniert, braucht’s bestimmte Voraussetzungen: Gewerkschaften müssen tariffähig sein, also genug soziale Mächtigkeit haben, um den Arbeitgebern auch wirklich Paroli bieten zu können. Sonst wäre das Machtgleichgewicht dahin. Tarifverträge müssen außerdem schriftlich abgeschlossen werden und sich im Rahmen der Verfassung und des zwingenden Gesetzes bewegen.
Betriebsvereinbarung
Im Betriebsverfassungsrecht geht’s um das Verhältnis zwischen Arbeitgeber und Betriebsrat. Der Betriebsrat vertritt die Arbeitnehmerinteressen (§§ 2 Abs. 3, 74 Abs. 3 BetrVG), während Gewerkschaften parallel über Tarifverträge aktiv sind. Wichtig dabei: Tarifverträge haben Vorrang (§ 77 Abs. 3 BetrVG). Beide Seiten sind zur vertrauensvollen Zusammenarbeit verpflichtet (§ 2 Abs. 1 BetrVG).
Das zentrale Werkzeug heißt Betriebsvereinbarung (§ 77 BetrVG). Sie entsteht durch gemeinsamen Beschluss von Arbeitgeber und Betriebsrat (§ 77 Abs. 2 BetrVG) – also ganz klassisch durch zwei übereinstimmende Willenserklärungen. Der Betriebsrat braucht dafür einen wirksamen Beschluss (§ 33 BetrVG).
Die Vereinbarung wirkt auf zwei Ebenen: schuldrechtlich nur zwischen Arbeitgeber und Betriebsrat, normativ für alle Arbeitnehmer des Betriebs (§ 77 Abs. 4 BetrVG). Und dieser normative Teil ist zwingend – man kann darauf nicht verzichten.
Es braucht einen ordnungsgemäß gewählten Betriebsrat (§§ 1, 5, 7 ff. BetrVG). Schriftform ist Pflicht (§ 77 Abs. 2 BetrVG), sonst Nichtigkeit (§ 125 BGB).
Inhaltlich darf nur geregelt werden, was in die Zuständigkeit der Betriebsparteien fällt (§§ 87, 88 BetrVG).
Betriebsvereinbarungen müssen mit Verfassungs- und einfachem Gesetzesrecht vereinbar sein (§ 75 BetrVG, § 134 BGB). Eine AGB-Kontrolle nach § 310 Abs. 4 BGB gibt’s nicht. Die Grundrechte gelten nicht direkt, aber der Gesetzgeber hat den Betriebsparteien über § 75 BetrVG eine Schutzpflicht auferlegt. Anders als im Tarifrecht findet hier eine strenge Verhältnismäßigkeitskontrolle statt.
Grundsätzlich gilt die Vereinbarung für alle Arbeitnehmer des Betriebs (§ 5 BetrVG), nicht aber für leitende Angestellte (§ 5 Abs. 3, Abs. 4 BetrVG). Sie begründet unmittelbar Ansprüche (§ 77 Abs. 4 BetrVG). Steht im Arbeitsvertrag etwas Besseres, greift das Günstigkeitsprinzip – der Arbeitnehmer darf sich auf die für ihn günstigere Regelung berufen.
Arbeitsvertrag
Schön wär’s ja, wenn man im Arbeitsvertrag alles frei reinschreiben könnte, was einem in den Kopf kommt. Aber so läuft’s natürlich nicht. Die Freiheit der Vertragsparteien stößt im Arbeitsrecht schnell an enge Grenzen, denn ein dichtes Netz an Gesetzen und Tarifnormen wacht darüber, dass Arbeitnehmer nicht über den Tisch gezogen werden. Viele dieser Regeln sind zwingend oder zumindest halbzwingend – und wenn ein Arbeitsvertrag dagegen verstößt, dann ist die entsprechende Klausel schlicht nichtig, § 134 BGB lässt grüßen.
Trotzdem bleibt der Arbeitsvertrag die Basis des Ganzen: Ohne ihn kein Arbeitsverhältnis. Und genau hier werden die essentials – also Parteien, Art und Umfang der Arbeitsleistung sowie die Vergütung – verbindlich festgelegt.
Ein anderer spannender Punkt ist die Abschlussfreiheit. Die geht ziemlich weit. Arbeitgeber sind also grundsätzlich nicht verpflichtet, mit jemandem einen Vertrag zu schließen – selbst dann nicht, wenn der Bewerber der objektiv Beste ist und die Ablehnung gegen das AGG verstößt. Einen Anspruch auf Einstellung gibt’s in § 15 Abs. 6 AGG nämlich nicht.
Neben den eigentlichen Arbeitsverträgen existieren im Arbeitsrecht aber noch ein paar besondere „Quellen“: die Gesamtzusage und die betriebliche Übung.
Gesamtzusage
Stell Dir vor, der Arbeitgeber verkündet per Rundmail oder Aushang am Schwarzen Brett: „Alle bekommen ab sofort Tankgutscheine!“ – das ist eine klassische Gesamtzusage. Sie richtet sich an alle oder an bestimmte Gruppen von Arbeitnehmern und verspricht ihnen eine Leistung.
Juristisch gesehen ist das aber kein kollektives Arbeitsrecht, sondern wirkt individuell.
Damit das Ganze bindend wird, braucht es streng genommen ein Angebot (§ 145 BGB) und eine Annahme der Arbeitnehmer. Aber: Anders als sonst ist die Annahmeerklärung hier nicht zwingend erforderlich, § 151 S. 1 BGB macht’s möglich. Mit der stillschweigenden Annahme der Arbeitnehmer wird die Zusage Bestandteil des Arbeitsvertrags. Im Ergebnis entsteht so eine „Mehrheit gleichlautender Individualverträge“.
Ganz wichtig: Wie diese Gesamtzusage auszulegen ist, hängt nicht vom guten Willen des Chefs ab, sondern vom objektiven Empfängerhorizont. Also: Wie durfte die Belegschaft das Versprechen nach Treu und Glauben verstehen?
Betriebliche Übung
Jetzt wird’s noch spannender. Denn manchmal sagt der Arbeitgeber gar nichts, sondern handelt einfach. Zum Beispiel, wenn er drei Jahre hintereinander Weihnachtsgeld überweist. Irgendwann dürfen die Arbeitnehmer davon ausgehen: Das gibt’s auch in Zukunft. Und genau das nennt man betriebliche Übung. Sie ist so etwas wie Gewohnheitsrecht im Betrieb und kann Ansprüche begründen, auch wenn sie nie im Arbeitsvertrag auftaucht.
Der Clou: Anders als bei der Gesamtzusage braucht es hier kein ausdrückliches Angebot. Entscheidend ist, dass der Arbeitgeber ein Verhalten regelmäßig und gleichförmig wiederholt und die Arbeitnehmer berechtigterweise erwarten dürfen, dass es so weitergeht. Die betriebliche Übung greift allerdings nur subsidiär – also nur dann, wenn die Leistung nicht ohnehin schon durch Gesetz, Tarifvertrag oder Arbeitsvertrag geschuldet ist.
Und jetzt wird’s juristisch: Warum bindet die betriebliche Übung eigentlich? Zwei Theorien streiten hier um die Deutungshoheit.
- Das BAG setzt auf die Vertragstheorie. Danach ist das Verhalten des Arbeitgebers – zum Beispiel die wiederholte Bonuszahlung – ein stillschweigendes Vertragsangebot. Die Arbeitnehmer nehmen dieses Angebot durch bloßes Entgegennehmen an (§ 151 BGB). Auf einen erkennbaren Bindungswillen des Arbeitgebers kommt es nicht an – entscheidend ist, wie die Arbeitnehmer die Sache nach §§ 133, 157 BGB verstehen durften. Will der Arbeitgeber vermeiden, dass sein Verhalten als Verpflichtung ausgelegt wird, muss er einen klaren Vorbehalt erklären.
- Die andere Meinung in der Literatur spricht von einer außervertraglichen Vertrauenshaftung. Nach dieser Ansicht fehlt es bei der betrieblichen Übung am Erklärungsbewusstsein. Stattdessen habe der Arbeitgeber durch sein Verhalten ein Vertrauenstatbestand geschaffen, an dem er sich nach § 242 BGB messen lassen muss. Doch diese Sichtweise ist in der Praxis auf der Strecke geblieben – zu schwammig, zu wenig handhabbar.
Die herrschende Linie (und auch die überzeugendere) ist also die Vertragstheorie. Allerdings sollte man nicht automatisch von einer unbefristeten Bindung ausgehen. Vielmehr ist meist nur ein eingeschränkter Bindungswille erkennbar – die Sonderleistungen sollen regelmäßig von Anlass und Umständen abhängen.
Wann genau entsteht eine betriebliche Übung? Die Klassikerregel: Wenn der Arbeitgeber eine Sonderleistung wie Weihnachtsgeld drei Jahre in Folge vorbehaltlos gewährt. Aber Achtung: Die „Dreierregel“ ist kein Dogma. Entscheidend bleibt die Erwartungslage der Arbeitnehmer.
Problematisch wird’s, wenn die Zahlungen in unterschiedlicher Höhe erfolgen. Mal sagt das BAG: Keine betriebliche Übung, weil das Ganze zu beliebig war. Mal urteilt es anders: Doch, bindend, weil sich ein Leistungssystem erkennen ließ und die Höhe nach billigem Ermessen (§ 315 BGB) bestimmt werden kann. Der Trend geht dahin, dass ein erkennbares System genügt, während rein willkürliche Zahlungen keine Bindung auslösen.
Ein weiterer Knackpunkt: Freiwilligkeitsvorbehalte. Formuliert der Arbeitgeber klar, dass eine Leistung freiwillig und ohne Rechtsanspruch gewährt wird, verhindert das eine betriebliche Übung. Aber Vorsicht: Die AGB-Kontrolle hat die Anforderungen an solche Vorbehalte verschärft. Unklare oder pauschale Vorbehalte sind schnell intransparent und damit unwirksam (§ 307 BGB).
Intransparent ist auch eine Kombination von Freiwilligkeits- und Widerrufsvorbehalt. Für den Arbeitnehmer ist dann nämlich nicht deutlich erkennbar, ob nun jegliche zukünftige Bindung ausgeschlossen oder lediglich eine Möglichkeit eröffnet werden soll, sich später wieder von einer vertraglichen Bindung loszusagen.
Auch doppelte Schriftformklauseln können eine Rolle spielen. Nach Ansicht des BAG können sie verhindern, dass eine betriebliche Übung entsteht. Doch auch hier gilt: Nur wenn sie wirksam und transparent sind. Eine doppelte Schriftformklausel etwa, die auch ausdrückliche mündliche Abreden erfasst, benachteiligt den Arbeitnehmer unangemessen (§ 307 Abs. 1 S. 1 BGB) – sie täuscht nämlich über die Rechtslage, da sie den Eindruck erweckt, eine mündliche Abrede sei entgegen § 305b BGB unwirksam.
Direktionsrecht
Zuletzt gibt es noch das Weisungsrecht (§ 106 S. 1 GewO) des Arbeitgebers.
