Stell Dir vor, Du hast jemandem etwas versprochen – vielleicht Geld geliehen oder Hilfe zugesagt – und jetzt geht es darum, das Versprechen einzulösen. Dann sagt das Gesetz nicht einfach nur „Mach das halt“, sondern schaut auch auf das Wie. Genau an dieser Stelle kommt § 242 BGB ins Spiel. Die Vorschrift sagt: Der Schuldner soll leisten, wie es Treu und Glauben mit Rücksicht auf die Verkehrssitte erfordern. Klingt erstmal wie ein schöner moralischer Appell – aber dahinter steckt ein mächtiger Grundsatz des Zivilrechts, der weit über das bloße „ordentliche Liefern“ hinausgeht.
Klar, vom Wortlaut her könnte man denken: § 242 BGB regelt nur, wie eine Leistung zu erbringen ist – also vielleicht freundlich, pünktlich, sauber. Aber Rechtsprechung und Literatur haben mehr daraus gemacht. Sie sagen: Nicht nur der Schuldner, sondern auch der Gläubiger – also der, der etwas verlangt – muss sich fair verhalten. Und zwar immer. In jedem Schuldverhältnis. Du siehst schon: Hier geht es nicht um Detailfragen, sondern um ein großes Prinzip. Treu und Glauben bedeutet nämlich auch, dass Du auf die berechtigten Interessen der anderen Seite Rücksicht nehmen musst. Und das gilt längst nicht nur im Schuldrecht. Auch im Familienrecht, Erbrecht, Sachenrecht – ja sogar im öffentlichen Recht – taucht dieser Gedanke immer wieder auf. Denn § 242 BGB ist das Einfallstor für sozialethische Wertungen im Recht.
Gerade weil § 242 BGB so offen formuliert ist, bietet er der Rechtsprechung Spielraum. Früher wurde dieser Spielraum ganz selbstverständlich zur Rechtsfortbildung genutzt. Heute ist das verfassungsrechtlich etwas anders geregelt – maßgeblich ist jetzt Art. 20 Abs. 3 GG. Trotzdem bleibt § 242 BGB ein wichtiges Werkzeug: Er zeigt, dass der Gesetzgeber bestimmte Interessenkonflikte bewusst offen gelassen hat. Und das gibt den Gerichten die Möglichkeit, für solche Fälle eigenständig gerechte Lösungen zu finden – etwa wenn sich die Lebensverhältnisse verändert haben oder neue gesellschaftliche Wertmaßstäbe auftauchen.
Anwendungsbereich
Wenn Du jetzt denkst: „Gilt das immer?“, dann bist Du nicht allein. Denn § 242 BGB setzt voraus, dass ein Schuldverhältnis besteht – also irgendeine rechtliche Verbindung zwischen zwei Personen, bei der einer etwas schuldet und der andere etwas verlangen kann. Das ist meist ein Vertrag, kann aber auch ein gesetzliches Schuldverhältnis sein – zum Beispiel unter Nachbarn. In der Literatur wird zum Teil auch schon eine sogenannte „rechtliche Sonderverbindung“ ausreichen gelassen. Aber Achtung: Ein bloßer sozialer Kontakt genügt nicht. Nur weil Du mit jemandem Smalltalk geführt hast, bist Du ihm nicht gleich zur Rücksicht verpflichtet.
Der Gedanke dahinter ist nachvollziehbar: Treu und Glauben verlangt mehr als das, was unter Jedermann im Alltag üblich ist. Es geht um gesteigerte sozialethische Anforderungen. Wo es keine rechtliche Sonderverbindung gibt, gelten daher nur die allgemeinen Regeln – insbesondere § 826 BGB mit dem Verbot der vorsätzlichen sittenwidrigen Schädigung.
Manche Stimmen in der Literatur fordern trotzdem, den Anwendungsbereich von § 242 BGB noch weiter zu fassen – als allgemeines Rechtsprinzip für alle Rechtsverhältnisse. Der Kompromiss: Der direkte Anwendungsbereich bleibt auf Schuldverhältnisse begrenzt. Aber der zugrundeliegende Gedanke – das Gebot gegenseitiger Rücksicht – zieht sich wie ein roter Faden durch das gesamte Recht.
Interessenabwägung
Wenn zwei sich streiten, dann hilft § 242 BGB nicht mit starren Regeln, sondern verlangt Abwägung. Welche Interessen wiegen schwerer? Wer durfte was erwarten? Was ist zumutbar? Der Maßstab ist immer: Was gebieten Treu und Glauben – mit Blick auf die Verkehrssitte.
Treu und Glauben
Dabei hat die Paarformel „Treu und Glauben“ eine klare Stoßrichtung: fairer Ausgleich, redliches Verhalten, berechtigtes Vertrauen schützen. Was genau damit gemeint ist, entscheidet sich nicht nach dem, was gerade üblich ist – sondern nach den Grundwerten der Rechtsordnung. Und die wiederum sind stark von den Grundrechten geprägt. So wird die Entscheidung normativ fundiert, nicht nur empirisch.
Verkehrssitte
Neben Treu und Glauben nennt § 242 BGB noch die Verkehrssitte. Die ist ein ganz anderer Typ von Maßstab. Während Treu und Glauben eine normative Sollensregel ist, beschreibt die Verkehrssitte das, was tatsächlich im Verkehr üblich ist. Also das, was „man so macht“. Bei Kaufleuten sind das zum Beispiel die Handelsbräuche nach § 346 HGB. Was dabei wichtig ist: Die Verkehrssitte darf nicht im Widerspruch zu Treu und Glauben stehen. Wenn eine Gewohnheit gegen elementare Gerechtigkeitsvorstellungen verstößt, bleibt sie unbeachtlich – auch wenn „alle es so machen“.
Abgrenzungen
Du erinnerst Dich an § 157 BGB? Da geht es um die Auslegung von Verträgen. Auch hier tauchen Treu und Glauben und die Verkehrssitte auf. Der Unterschied: Bei § 157 BGB geht es darum, herauszufinden, was die Parteien mit ihrer Erklärung eigentlich sagen wollten. Treu und Glauben helfen hier nur mittelbar – als Auslegungsregel. Bei § 242 BGB dagegen sind sie der Maßstab selbst. Die Reihenfolge ist also wichtig: Zuerst versucht man mit §§ 133, 157 BGB den Parteiwillen zu ermitteln. Nur wenn das nicht gelingt oder nicht reicht, kommt § 242 BGB ins Spiel – quasi als Rettungsanker für den fairen Ausgleich.
Weil der Grundsatz von Treu und Glauben so grundlegend ist, hat er viele Spuren im BGB hinterlassen. Manche Vorschriften sind sogar direkt aus der Rechtsprechung zu § 242 BGB hervorgegangen (gesetzliche Konkretisierungen). Ein gutes Beispiel: die AGB-Kontrolle, die Kündigung aus wichtigem Grund oder die Störung der Geschäftsgrundlage. Auch wenn diese Institute inzwischen eigenständig im Gesetz stehen, greifen sie doch immer wieder auf den Gedanken von Treu und Glauben zurück. Und das macht § 242 BGB zu einem echten Allrounder im Zivilrecht.
Neben § 242 BGB gibt’s noch andere Generalklauseln, die in eine ähnliche Richtung zielen. Zum Beispiel § 138 Abs. 1 BGB: Hier geht’s um Sittenwidrigkeit. Und zwar auch außerhalb von Schuldverhältnissen – also in Situationen, wo § 242 BGB gar nicht greift. Die Latte liegt hier allerdings höher. Nur wenn ein Geschäft gegen die Grundregeln des Anstands verstößt, ist es sittenwidrig und damit nichtig.
Ist das Geschäft an sich in Ordnung, stellt sich oft noch eine zweite Frage: Wird ein daraus folgendes Recht auf unfaire Weise ausgeübt? Dann kommt § 242 BGB ins Spiel – als Korrektiv. Das Gleiche gilt für § 226 BGB, das Schikaneverbot. Hier geht’s um Fälle, in denen jemand ein Recht nur deshalb ausübt, um einem anderen zu schaden. Auch das ist unzulässig – selbst wenn es formal korrekt wäre. Denn auch hier sagt das Recht: So nicht. Nicht mit uns.
Fallgruppen
Typische Konstellationen in der Praxis sind fehlendes schutzwürdiges Eigeninteresse, Unverhältnismäßigkeit, widersprüchliches Verhalten und Verwirkung.
