Straftheorien
Was genau bezweckt das Strafrecht? Zunächst einmal geht es um den Rechtsgüterschutz, also den Schutz von Individualrechtsgütern wie Leben, Leib, Eigentum und Vermögen, sowie von Universalrechtsgütern der Allgemeinheit, zum Beispiel der Rechtspflege, der Sicherheit im Straßenverkehr oder dem Umweltschutz. Doch was genau bedeutet das für die Strafe selbst? Hier kommen die Straftheorien ins Spiel, die uns helfen sollen, den Sinn und die Ziele von Strafen besser zu verstehen. Grundsätzlich lassen sich diese Theorien in zwei große Kategorien einteilen: absolute und relative Straftheorien.
Absolute Straftheorien
Schauen wir uns zuerst die absoluten Straftheorien an, die vor allem auf Denker wie Immanuel Kant und Georg Wilhelm Friedrich Hegel zurückgehen. Bei diesen Theorien wird der Sinn der Strafe losgelöst von gesellschaftlichen Zielen betrachtet – die Strafe wirkt rein repressiv und richtet sich auf die Vergangenheit.
Die Vergeltungstheorie ist ein gutes Beispiel für diese Denkrichtung: Hier wird die Strafe als eine Art „Vergeltung“ für das begangene Unrecht verstanden. Sie soll dem Täter für sein Vergehen gerecht werden, indem sie das Gleichgewicht zwischen Unrecht und Gerechtigkeit wiederherstellt. Die Strafe wird also nicht aus praktischen Erwägungen verhängt, sondern als moralische Notwendigkeit.
Ähnlich verhält es sich bei der Sühnetheorie, nach der die Strafe dem Täter hilft, sich mit der Rechtsordnung zu versöhnen. Es geht darum, dass der Täter durch die Strafe eine Art Reue zeigt und so wieder in die Gemeinschaft integriert wird – das Unrecht ist dadurch beglichen.
Relative Straftheorien
Im Gegensatz zu den absoluten Theorien zielen die relativen Straftheorien auf den präventiven Zweck der Strafe ab. Hier geht es nicht nur um die Bestrafung des begangenen Unrechts, sondern vor allem um die Verhinderung künftiger Straftaten. Man spricht von einer Generalprävention und einer Spezialprävention, zwei Arten der Prävention, die unterschiedliche Ziele verfolgen.
Generalprävention
Die negative Generalprävention geht vor allem auf Paul Johann Anselm von Feuerbach zurück und versteht Strafe als ein Mittel zur Abschreckung der Allgemeinheit. Sie soll den Bürger abschrecken und dazu bringen, von Straftaten abzusehen. Das Ziel ist es, durch die Strafe eine Furcht vor den Konsequenzen strafbaren Handelns zu erzeugen, sodass potenzielle Täter sich von der Begehung einer Straftat abhalten lassen. Doch dieser Gedanke birgt Risiken: Wenn die Strafe vor allem als Abschreckung dient, neigt der Staat dazu, härtere Strafen zu verhängen, die nicht immer im Verhältnis zur Tat stehen.
Die positive Generalprävention hingegen betont, dass die Strafe auch eine Funktion der Normbestätigung hat. Das heißt, durch die Bestrafung des Täters wird der Gesellschaft gezeigt, dass die Rechtsordnung durchgesetzt wird und dass rechtstreues Verhalten belohnt wird. Der Zweck dieser Strafe ist es, das Vertrauen in die Rechtsordnung zu stärken und den Glauben an die Gerechtigkeit der Gesellschaft aufrechtzuerhalten.
Kritisch lässt sich sagen, dass die negative Generalprävention oft dazu verleitet, die Strafe als Abschreckungsmittel zu übertreiben. Anstatt maßvolle Strafen zu verhängen, könnte es zu übertriebenen Urteilen kommen, die mehr Angst schüren als eine tatsächliche Verhaltensänderung herbeizuführen. Der Gedanke, dass eher die Wahrscheinlichkeit, erwischt zu werden, und nicht die Höhe der Strafe das Verhalten beeinflusst, wird dabei oft übersehen. Im Gegensatz dazu ist die positive Generalprävention durchaus wertvoll, da sie den Bürger in seinem Vertrauen auf das Rechtssystem stärkt, allerdings bleibt dabei der individuelle Fall des Täters oft außen vor.
Spezialprävention
Die Spezialprävention konzentriert sich stärker auf den Einzelnen. Sie geht vor allem auf den Kriminalpolitiker Franz von Liszt zurück und unterscheidet zwischen negativer und positiver Spezialprävention.
Bei der negativen Spezialprävention geht es darum, die Gesellschaft vor dem Täter zu schützen – insbesondere dann, wenn dieser als nicht besserungsfähig gilt. Hier wird die Strafe als Mittel eingesetzt, um den Täter von weiteren Straftaten abzuhalten. In extremen Fällen kann das zu einer langen Haftstrafe führen, um den Täter dauerhaft von der Gesellschaft fernzuhalten.
Die positive Spezialprävention verfolgt das Ziel, den Täter zu bessern. Sie sieht die Strafe als eine Möglichkeit, den Täter durch Resozialisierung wieder in die Gesellschaft einzugliedern. Dies kann durch Therapie, Bildungsmaßnahmen oder andere Programme geschehen. Dabei wird davon ausgegangen, dass der Täter nach einer Bestrafung wieder in der Lage ist, ein normgerechtes Leben zu führen.
Die Kritik an der negativen Spezialprävention ist vor allem, dass Wiederholungstäter mit unverhältnismäßig hohen Strafen belegt werden könnten, was kaum noch im Verhältnis zu den begangenen Taten stünde. Bei der positiven Spezialprävention hingegen ist die Frage, wie man einmalige Täter (etwa im Fall eines Totschlags in einer extremen Lebenssituation) rechtfertigen kann, wenn ihre Strafe nach diesem Modell nicht verhältnismäßig erscheint.
Vereinigungstheorien
Letztlich finden sich viele in der Rechtsprechung und auch in der Literatur vereinigende Theorien, die versuchen, die positiven Aspekte der verschiedenen Strafzwecke miteinander zu kombinieren. Ein prominentes Beispiel ist die vergeltende Vereinigungstheorie (vgl. § 46 Abs. 1 S. 1 StGB). Diese Theorie geht davon aus, dass die Strafe einerseits der Vergeltung dient – also dem gerechten Ausgleich für das begangene Unrecht. Andererseits sollen aber auch präventiveZiele verfolgt werden, indem die Strafe nicht nur dem Täter, sondern auch der Allgemeinheit zugutekommt. In der Praxis bedeutet dies, dass das Schuldausmaß des Täters die Grundlage für die Strafzumessung bildet, aber gleichzeitig auch Aspekte der Generalprävention und Spezialprävention berücksichtigt werden.
Die präventive Vereinigungstheorie geht sogar noch weiter und fordert, dass die Strafe niemals von sozialen Zweckenlosgelöst werden darf. Ein Strafrecht, das sich ausschließlich auf die Bekämpfung von sozialschädlichem Verhalten und den Schutz von Rechtsgütern konzentriert, darf keine Strafe verhängen, die vom gesellschaftlichen Nutzen entkoppelt ist.
Sanktionsarten
Stell Dir vor, Du sitzt in einem gut beleuchteten Gerichtssaal, die Atmosphäre ist gespannt. Der Angeklagte, ein Mittdreißiger mit nervös gefalteten Händen, wartet auf sein Urteil. Der Richter blickt über den Rand seiner Brille und beginnt mit der Verkündung: „Im Namen des Volkes ergeht folgendes Urteil…“ Was jetzt folgt, sind die möglichen Sanktionen, die das Strafgesetzbuch bereithält – und die können es in sich haben.
Fangen wir mit dem Klassiker an: der Freiheitsstrafe. Normalerweise wird diese zeitlich befristet verhängt. Eine Ausnahme gibt es allerdings, und die ist so drastisch wie eindeutig: Bei Mord gemäß § 211 StGB gibt es lebenslang. Wer einmal zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe verurteilt ist, kann frühestens nach 15 Jahren hoffen, wieder auf freien Fuß zu kommen. Bei weniger schweren Delikten bleibt es bei einer zeitigen Freiheitsstrafe – die reicht von einem Monat bis zu 15 Jahren.
Nicht jeder, der sich strafbar macht, muss gleich hinter Gitter. Manchmal tut es auch eine Geldstrafe. Die wird in sogenannten Tagessätzen bemessen, was bedeutet, dass nicht nur die Tat, sondern auch die finanziellen Verhältnisse des Täters eine Rolle spielen. Wer mehr verdient, zahlt auch mehr. Kommt jemand der Zahlungsaufforderung nicht nach, kann die Geldstrafe in eine Ersatzfreiheitsstrafe umgewandelt werden. Das bedeutet: Wer nicht zahlt, muss sitzen.
Daneben gibt es Nebenstrafen. Das bekannteste Beispiel: das Fahrverbot nach § 44 StGB. Wenn ein Täter eine Straftat im Zusammenhang mit dem Führen eines Kraftfahrzeugs begeht – sei es zu schnell gefahren oder mit Promille im Blut –, dann kann es passieren, dass er seinen Führerschein für ein bis sechs Monate abgeben muss. Während dieser Zeit wird die Fahrerlaubnis amtlich verwahrt. Nach Ablauf bekommt man sie einfach wieder zurück – anders als bei der Entziehung der Fahrerlaubnis, bei der eine Neuerteilung durch die Führerscheinstelle erforderlich ist.
Apropos Entziehung der Fahrerlaubnis: Das ist eine Maßregel der Besserung und Sicherung nach § 69 StGB. Wenn jemand als ungeeignet zum Führen von Kraftfahrzeugen gilt – sei es wegen Alkohol am Steuer oder charakterlicher Mängel –, dann verliert er die Fahrerlaubnis vollständig. Ohne Wenn und Aber. Damit der Entzug nicht ewig dauert, legt das Gericht eine Sperrfrist fest. Innerhalb dieser Zeit gibt es keine neue Fahrerlaubnis. Nur wer sich als besonders geläutert zeigt oder an einer qualifizierten Nachschulung (MPU) teilnimmt, kann hoffen, die Sperre vorzeitig aufheben zu lassen.
Manchmal kann das Gericht auch Milde walten lassen. Freiheitsstrafen von bis zu einem Jahr – in Ausnahmefällen bis zu zwei Jahren – können zur Bewährung ausgesetzt werden. Das bedeutet, der Verurteilte bleibt auf freiem Fuß, muss sich aber bewähren. Damit das klappt, kann das Gericht ihm Auflagen machen oder Weisungen erteilen. Er muss vielleicht Geld an eine gemeinnützige Organisation zahlen oder regelmäßig bei einem Bewährungshelfer vorsprechen. Hält er sich nicht daran oder wird wieder straffällig, kann die Bewährung widerrufen werden – dann geht es doch ins Gefängnis.
Natürlich gibt es auch besondere Konstellationen: Wer eine zeitige Freiheitsstrafe absitzt, kann nach zwei Dritteln der Strafe vorzeitig entlassen werden, wenn bestimmte Voraussetzungen erfüllt sind (§ 57 StGB). Selbst bei einer lebenslangen Freiheitsstrafe gibt es die Möglichkeit einer Strafaussetzung, wobei die Hürden deutlich höher liegen (§§ 57a, 57b StGB).
Und dann gibt es noch die sogenannten Maßregeln der Besserung und Sicherung. Diese Sanktionen zielen nicht auf Bestrafung ab, sondern sollen die Gesellschaft schützen und den Täter bessern. Die Palette reicht von der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus über die Sicherungsverwahrung bis hin zur Entziehung der Fahrerlaubnis oder einem Berufsverbot. Maßgeblich ist hier die Prognose: Wie gefährlich ist die Person in der Zukunft? Außerdem muss jede Maßregel verhältnismäßig sein – also kein härteres Mittel als nötig.
Strafzumessung
Die Strafzumessung ist der Moment, in dem aus den trockenen Paragrafen eine ganz reale Konsequenz wird. Hier entscheidet das Gericht, wie hoch oder niedrig die Strafe ausfällt – und das ist alles andere als eine simple Rechenaufgabe. Stattdessen geht es um eine umfassende Abwägung aller Umstände, die für oder gegen den Täter sprechen. Ziel ist eine Strafe, die nicht nur irgendein Gesetzbuch zufriedenstellt, sondern in erster Linie der Schulddes Täters gerecht wird.
Im Mittelpunkt steht die gesetzliche Strafdrohung. Das Gesetz gibt den Rahmen vor: Mal eng und unumstößlich, wie bei einem Mord nach § 211 StGB, der immer mit lebenslanger Freiheitsstrafe geahndet wird. Mal bietet es Spielraum, wie bei vielen anderen Delikten, wo die Strafe innerhalb einer bestimmten Bandbreite liegt – das ergibt sich aus § 38 Abs. 2 StGB. Innerhalb dieser Grenzen bewegt sich das Gericht und legt die konkrete Strafe fest.
Die rechtliche Grundlage für diese Abwägung findet sich in § 46 StGB. Dort ist die sogenannte „Strafzumessungsschuld“ verankert. Das klingt sperrig, bedeutet aber im Kern: Die Strafe muss zur Schuld des Täters passen. Dabei spielen drei Blickwinkel eine Rolle – die Tat an sich (Schuldstrafrecht), die Persönlichkeit des Täters (Täterstrafrecht) und die Auswirkungen der Strafe (Rechtsfolgenstrafrecht). Diese Gesamtbetrachtung sorgt dafür, dass nicht nur die Tat, sondern auch der Mensch dahinter berücksichtigt wird.
Welche Umstände sind nun entscheidend? Das Gesetz gibt hier in § 46 Abs. 2 StGB eine Richtung vor. Besonders ins Gewicht fallen die Beweggründe des Täters, seine Ziele und die innere Einstellung. Auch die Art und Weise, wie die Tat begangen wurde, spielt eine Rolle – war es eine spontane Kurzschlussreaktion oder ein akribisch geplanter Coup? Das Vorleben des Täters, also etwa frühere Verurteilungen, wird genauso einbezogen wie sein Verhalten nach der Tat. Wer beispielsweise den Schaden wiedergutmacht oder Reue zeigt, kann mit einer milderen Strafe rechnen. Genau dafür gibt es sogar eine eigene Vorschrift: § 46a StGB regelt die Strafmilderung bei einem erfolgreichen Täter-Opfer-Ausgleichoder Schadenswiedergutmachung.
Manchmal hilft es auch, das Gericht durch Zusammenarbeit zu überzeugen. § 46b StGB – besser bekannt als Kronzeugenregelung – ermöglicht eine Strafmilderung, wenn der Täter entscheidend zur Aufklärung oder Verhinderung weiterer Straftaten beiträgt. Dazu gesellen sich weitere spezielle Milderungsgründe aus § 49 StGB. Dazu gehören beispielsweise eine verminderte Schuldfähigkeit oder der Versuch statt der vollendeten Tat.
Aber nicht nur die Tat an sich zählt – auch die Folgen für den Täter selbst spielen eine Rolle. Wenn etwa ein Beamter wegen einer Freiheitsstrafe von mehr als einem Jahr automatisch seinen Job verliert, ist das ein Punkt, den das Gericht bei der Strafzumessung berücksichtigt. Besonders komplex wird es, wenn verschiedene Rechtsfolgen kombiniert werden – zum Beispiel eine Freiheitsstrafe plus eine Geldstrafe nach § 41 StGB oder zusätzlich ein Fahrverbot. In solchen Fällen muss das Gericht eine Gesamtabwägung vornehmen und sicherstellen, dass die Summe aller Sanktionen noch zur Schuld des Täters passt.
Ein spannender und aktueller Aspekt ist die Frage, wie sich eine überlange Verfahrensdauer auf die Strafe auswirkt. Früher wurde die lange Wartezeit direkt bei der Strafhöhe berücksichtigt – die sogenannte Strafzumessungslösung. Heute setzt sich zunehmend die sogenannte Vollstreckungslösung durch. Hier wird zwar die ursprünglich passende Strafe verhängt, aber das Gericht kann anordnen, dass ein Teil davon nicht vollstreckt wird – eine Art Ausgleich für die Geduldsprobe, die der Angeklagte durch ein schleppendes Verfahren erdulden musste.