Stell Dir vor, Du bist in einer Situation, in der Du glaubst, Dich in Notwehr zu befinden, obwohl dies in Wirklichkeit nicht der Fall ist. Dieser Irrtum über einen Rechtfertigungsgrund wird als Erlaubnistatbestandsirrtum (ETBI) bezeichnet. Der Täter geht davon aus, dass er einen Rechtfertigungsgrund hat, handelt aber irrtümlich, weil dieser in der Realität nicht existiert.

Ein klassisches Beispiel: A, eine ängstliche Joggerin, sprüht dem jungen Mann B, der ihr hinterherläuft, Pfefferspray ins Gesicht, weil sie glaubt, er wolle sie angreifen. In Wirklichkeit hatte B keinerlei böse Absichten; er wollte sich ihr nur nähern. Wir schauen uns das Problem im Rahmen einer Prüfung an, wie man sie in einer Klausur darstellen würde.

Zum Schluss der Prüfung sollte übrigens  auch die Möglichkeit der Fahrlässigkeitsstrafbarkeit nicht außer Acht gelassen werden, wenn das Verhalten des Täters auf einem fahrlässigen Irrtum beruht. Sollte der Erlaubnistatbestandsirrtum also aufgrund fahrlässiger Beurteilung entstanden sein, dann könnte eine Bestrafung wegen fahrlässigen Handelns nach § 16 Abs. 1 S. 2 StGB in Betracht gezogen werden. Geprüft wird dann, ob ein Fahrlässigkeitstatbestand vorliegt, ein Erfolg eingetreten ist und dies auf dem ETBI beruht.

In unserem Fall hat A den Tatbestand einer Körperverletzung (§§ 223 ff. StGB) verwirklicht. Ein Rechtfertigungsgrund kommt vorliegend nicht in Betracht, da eine Notwehrlage objektiv nicht vorliegt, und nur darauf kommt es bei der Rechtfertigung an.

Der Erlaubnistatbestandsirrtum tritt auf, wenn der Täter irrtümlich annimmt, dass er in einer Situation handelt, die durch einen Rechtfertigungsgrund gedeckt ist. Dies bedeutet, dass A denkt, sich in einer Notwehrsituation zu befinden, obwohl dies nicht der Fall ist.

Vorliegen eines ETBI

Hier werden die irrtümlich vorgestellten tatsächlichen Umstände der A als gegeben unterstellt und hypothetisch geprüft, ob ein Rechtfertigungsgrund (etwa Notwehr nach § 32 Abs. 1 StGB) einschlägig wäre.

Sollte sich herausstellen, dass der hypothetische Sachverhalt keine Rechtfertigung bieten kann, liegt kein Erlaubnistatbestandsirrtum vor. Dann könnte geprüft werden, ob A in einem Verbotsirrtum handelt, das heißt, ob sie die Rechtswidrigkeit ihrer Handlung nicht erkannt hat.

Rechtsfolgen des ETBI

Hier kommt die entscheidende Frage: Welche Konsequenzen hat der Erlaubnistatbestandsirrtum für die Strafbarkeit des Täters? Hier gibt es unterschiedliche Auffassungen, und die Rechtsfolgen des Erlaubnistatbestandsirrtums sind umstritten. Der entscheidende Punkt ist, dass der Täter irrtümlich einen Rechtfertigungsgrund annimmt, der in der Realität nicht existiert.

Strenge Schuldtheorie

Die strenge Schuldtheorie sieht hier vor, dass der Täter, trotz seines Irrtums, aus der vorsätzlichen Tat bestraft wird, wenn dieser Irrtum vermeidbar war. Sie trennt strikt den Vorsatz vom Unrechtsbewusstsein und macht damit einen klaren Unterschied zu einem Verbotsirrtum nach § 17 StGB. Das heißt, dass der Täter, der sich im ETBI befindet und den Irrtum vermeiden könnte, immer noch für die vorsätzliche Tat verantwortlich gemacht wird. Das hat durchaus seine Vorteile: Wenn es keinen Fahrlässigkeitstatbestand für die Tat gibt – wie es zum Beispiel bei Sachbeschädigungen der Fall sein könnte –, bleibt die Strafe dennoch möglich.

Aber halt, ganz so einfach ist es nicht. Es gibt eine Menge, die gegen diese strenge Sichtweise spricht. Stell Dir mal vor, der Täter denkt wirklich, er handelt nach den Regeln und will sich absolut korrekt verhalten. Er irrt sich nur in den Tatsachen, die er sich vorstellt, und glaubt, dass er einen Rechtfertigungsgrund hat. Der Gedanke, sich rechtstreu zu verhalten, führt dazu, dass er das Unrecht seiner Tat nicht erkennt. Er wird von der Appellfunktion des Gesetzes nicht wirklich erreicht – weil er, aufgrund seiner Fehlvorstellung, denkt, alles richtig gemacht zu haben. Der Erlaubnistatbestandsirrtum liegt jedoch strukturell viel näher an einem Tatbestandsirrtum nach § 16 StGB, als an einem Verbotsirrtum. Der Täter, der sich im ETBI bewegt, will nicht die Rechtsordnung zu seinen Gunsten ausdehnen, sondern er glaubt tatsächlich, sich im Rahmen der geltenden Gesetze zu bewegen. Es ist, als würde er einen Fehler in der Tatsachenwahrnehmung machen, aber nicht in der rechtlichen Bewertung.

Lehre von den negativen Tatbestandsmerkmalen

Die Lehre von den negativen Tatbestandsmerkmalen klingt erst einmal kompliziert, ist aber im Kern eine ziemlich spannende Idee: Sie betrachtet die Rechtfertigungsgründe als Teil eines großen „Gesamtunrechtstatbestandes„. Mit anderen Worten: Zu einer strafbaren Handlung gehört nicht nur, dass die Tat an sich passiert – es darf auch kein Rechtfertigungsgrund vorliegen. Nach dieser Sichtweise ist ein Tatbestand also nur dann erfüllt, wenn objektiv kein rechtfertigender Umstand greift. Die objektiven Rechtfertigungsvoraussetzungen sind demnach nichts anderes als die „negativen“ Merkmale des Tatbestandes. Das lässt sich gut an einem Beispiel erklären: Wenn es im Gesetz hieße, „Wer eine andere Person an der Gesundheit schädigt, ohne dass ein rechtfertigender Umstand vorliegt, wird bestraft“, wäre dieser fehlende Rechtfertigungsgrund automatisch Teil des objektiven Tatbestandes.

Das hat eine spannende Konsequenz für den ETBI. Wenn der Täter irrtümlich glaubt, es läge ein rechtfertigender Umstand vor – also etwa Notwehr –, fehlt ihm nach dieser Theorie der Vorsatz. Und wenn kein Vorsatz da ist, gibt es keine Strafe nach § 16 Abs. 1 S. 1 StGB. Ganz einfach gesagt: Wenn jemand fest davon ausgeht, im Recht zu sein, dann fehlt ihm der Vorsatz für eine rechtswidrige Tat, weil der „Gesamtunrechtstatbestand“ in seinem Kopf nicht erfüllt ist.

Klingt logisch? Vielleicht – aber die Sache hat einen Haken. Denn gegen diese Theorie sprechen zwei ziemlich starke Argumente. Erstens: Der Wortlaut des § 16 Abs. 1 S. 1 StGB sagt etwas anderes. Dort steht klipp und klar, dass ein Tatbestandsirrtum nur dann vorliegt, wenn der Täter „einen Umstand nicht kennt, der zum gesetzlichen Tatbestand gehört“. Und die Rechtfertigungsgründe sind nach traditioneller Sicht eben gerade kein Bestandteil des Tatbestandes. Zweitens: Unser gesamtes Strafrecht ist auf einem dreistufigen Aufbau aufgebaut – Tatbestand, Rechtswidrigkeit und Schuld. Die Lehre von den negativen Tatbestandsmerkmalen wirft dieses saubere System ordentlich durcheinander, weil sie die Rechtswidrigkeit schon in den Tatbestand hineinzieht.

Vorsatzunrechtverneinend

Die vorsatzunrechtverneinende Theorie verfolgt einen recht pragmatischen Ansatz: Wenn jemand sich irrtümlich vorstellt, dass ein Rechtfertigungsgrund vorliegt, soll er so behandelt werden, als hätte er sich über einen Tatbestandsumstand geirrt. Einfach gesagt: Diese Ansicht zieht eine Parallele zwischen dem ETBI und dem klassischen Tatbestandsirrtum aus § 16 Abs. 1 S. 1 StGB. Wer glaubt, rechtmäßig zu handeln, kann keinen Vorsatz für eine rechtswidrige Tat haben – und ohne Vorsatz gibt es bei Vorsatzdelikten keine Strafe.

Der Kniff dabei: Diese Theorie stützt ihr Ergebnis auf eine analoge Anwendung des § 16 Abs. 1 S. 1 StGB. Wenn der Täter sich vorstellt, es liege ein solcher Grund vor, ist das in der Wirkung dasselbe wie ein Irrtum über einen Tatbestandsumstand – und deshalb muss § 16 Abs. 1 S. 1 StGB entsprechend angewendet werden.

Das Ergebnis ist also ziemlich täterfreundlich: Wer sich in einem vermeintlichen Rechtfertigungsgrund wähnt, begeht aus Sicht dieser Theorie keine vorsätzliche Straftat. Schließlich fehlt das Unrechtsbewusstsein, weil der Täter davon ausgeht, legal zu handeln. Auch wenn das Gesetz diesen Fall nicht ausdrücklich regelt, wird das Problem durch die analoge Anwendung elegant gelöst – jedenfalls, solange man bereit ist, den Anwendungsbereich des § 16 Abs. 1 S. 1 StGB ein bisschen zu erweitern.

Vorsatzschuldverneinend

Die vorsatzschuldverneinende Theorie geht einen Mittelweg zwischen den anderen Ansichten. Sie sagt: Der Täter erfüllt zwar den Tatbestand vorsätzlich, aber trotzdem ist eine Bestrafung wegen einer vorsätzlichen Tat nicht gerechtfertigt. Warum? Weil ihm kein Schuldvorwurf gemacht werden kann. Das klingt erst mal kompliziert, ist aber im Kern ganz einfach: Auch wenn der Täter wusste, was er tat, glaubte er, im Recht zu sein – und genau deshalb fehlt ihm die besondere Schuld, die einen Vorsatztäter normalerweise von einem Fahrlässigkeitstäter unterscheidet.

Der Clou dabei ist die „Doppelfunktion“ des Vorsatzes. Nach dieser Theorie hat der Vorsatz nämlich nicht nur die Aufgabe, den objektiven Tatbestand zu erfüllen, sondern auch die Schuld zu begründen. Normalerweise trifft jemanden, der vorsätzlich handelt, ein schwerwiegenderer Vorwurf als jemanden, der nur fahrlässig handelt. Wenn sich aber jemand irrtümlich für gerechtfertigt hält, fehlt genau dieser besondere Schuldvorwurf. Das Ergebnis: Der Vorsatz bleibt bestehen, aber eine Bestrafung wegen einer vorsätzlichen Tat scheidet aus. Stattdessen kommt nur eine Bestrafung wegen eines Fahrlässigkeitsdelikts in Betracht – wenn es einen entsprechenden Fahrlässigkeitstatbestand gibt.

Kritiker werfen dieser Theorie vor, sie sei eine künstliche Konstruktion. Ihrer Meinung nach sei es dogmatisch unsauber, den Vorsatz aufzuspalten und eine eigenständige „Vorsatzschuld“ zu erfinden. Trotzdem hat die vorsatzschuldverneinende Theorie einiges für sich: Der Gedanke, dass der Vorsatz auch eine Schuldkomponente enthält, ist keineswegs abwegig – schließlich sprechen wir auch ganz selbstverständlich von „Schuldformen“ wie Vorsatz und Fahrlässigkeit. Außerdem ist ihr Ansatz logisch und systematisch sauber, weil sie den einmal festgestellten Tatbestandsvorsatz nicht wieder aufweichen muss.

Stellungnahme

Beim ETBI gehen die Meinungen darüber auseinander, ob der Täter wegen einer vorsätzlichen Tat bestraft werden kann. Während die strenge Schuldtheorie eine Bestrafung befürwortet, lehnen alle anderen Ansichten dies ab. Und genau hier liegt das Problem: Die strenge Schuldtheorie übersieht einen entscheidenden Punkt – nämlich die Art des Irrtums, um den es beim ETBI geht.

Der Fehler liegt im Detail. § 17 StGB spricht ausdrücklich von einem Unrechtsbewusstsein. Das meint eine falsche rechtliche Bewertung eines klar erkannten Sachverhalts. Wer sich im ETBI befindet, macht jedoch keinen Fehler bei der rechtlichen Bewertung. Stattdessen irrt er sich über die tatsächlichen Umstände – er glaubt also, dass eine Situation vorliegt, die ihn rechtfertigen würde. Das hat mit dem Verbotsirrtum aus § 17 StGB wenig zu tun. Viel näher liegt der Vergleich zum Tatbestandsirrtum nach § 16 StGB. Denn genau wie dort handelt der Täter auch beim ETBI aus seiner Sicht rechtmäßig und verdient deshalb nicht die schärfere Strafe einer vorsätzlichen Tat.

Die strenge Schuldtheorie führt deshalb zu unbilligen Ergebnissen. Wer sich irrtümlich für gerechtfertigt hält, soll nicht wie ein vorsätzlicher Täter behandelt werden – das ist nicht nur gerechter, sondern entspricht auch dem Willen des Gesetzgebers. Und genau deswegen ist die strenge Schuldtheorie abzulehnen. Da alle anderen Ansichten im Ergebnis zu einer Straflosigkeit wegen Vorsatzdelikten führen, müssen wir uns für keine bestimmte Theorie entscheiden. Egal, welcher Ansicht man folgt – wer sich in einem ETBI befindet, kann nicht wegen vorsätzlicher Tat bestraft werden.