Das Notwehrrecht stützt sich auf zwei fundamentale Prinzipien: das individualrechtliche Schutzprinzip und das sozialrechtliche Rechtsbewährungsprinzip. Diese beiden Gedanken sind wie zwei Säulen, die einerseits die Schärfe des Notwehrrechts erklären und andererseits die Einschränkungen auf der Ebene der Gebotenheit festlegen. Das Schutzprinzip besagt, dass niemand es hinnehmen muss, dass seine eigenen Rechte von einem Angreifer verletzt werden. Aber es gibt auch eine Grenze: Es geht nur um den Schutz von Individualrechten, nicht von allgemeinen Rechtsgütern. Das Rechtsbewährungsprinzip hingegen erklärt, dass derjenige, der Notwehr übt, nicht nur seine eigenen Rechte schützt, sondern auch stellvertretend für die gesamte Rechtsordnung das Unrecht bekämpft – gewissermaßen übernimmt er die Rolle der Staatsgewalt, die nicht immer sofort verfügbar ist.

Ein weiteres, wichtiges Element des Individualschutzprinzips besagt, dass das Recht auf Nothilfe nur im Einklang mit dem Willen des Angegriffenen steht. Das bedeutet, dass eine aufgedrängte Nothilfe in der Regel nicht gerechtfertigt ist. Ein solcher Fall tritt ein, wenn der Angegriffene klar, entweder ausdrücklich oder stillschweigend, seinen Willen kundtut, dass er keine Hilfe möchte – etwa weil eine Hilfeleistung ihn oder seine Angehörigen in noch größere Gefahr bringen würde. Natürlich gibt es auch Ausnahmen, die sich an den Regeln der Einwilligung orientieren. Hierbei ist die Einwilligung des Opfers in bestimmten Fällen unwirksam, wie es etwa in den §§ 216, 228 StGB der Fall ist.

Objektive Rechtfertigungselemente

Notwehrlage

Damit Notwehr nach § 32 Abs. 2 StGB zulässig ist, braucht es eine bestimmte Ausgangslage: Es muss ein gegenwärtiger, rechtswidriger Angriff vorliegen. Schauen wir uns das mal genauer an.

Angriff

Ein Angriff ist jedes Verhalten eines Menschen, das ein geschütztes Individualinteresse bedroht oder verletzt.

Kurz gesagt: Jemand greift in Deine Rechte ein – und zwar nicht bloß zufällig, sondern bewusst. Ein Hund, der auf Dich losgeht? Kein Angriff im Sinne des Notwehrrechts, weil der Vierbeiner keine eigene Willensentscheidung trifft. Anders sieht es aus, wenn ein Mensch das Tier auf Dich hetzt – dann steckt hinter der Attacke ein menschlicher Wille, und wir sind mitten in der Notwehr.

Notwehrfähig sind grundsätzlich alle Individualrechtsgüter – also nicht nur Leben und körperliche Unversehrtheit, sondern auch Dinge wie Dein Besitz oder Deine Ehre. Keine Notwehr gibt es hingegen, wenn nur allgemeine Interessen betroffen sind. Der Staat ist für die Durchsetzung solcher Interessen zuständig, nicht der Einzelne. Also: Kein „Staatsnotwehrrecht“.

Ein Angriff liegt übrigens nur vor, wenn tatsächlich ein Individualrechtsgut auf dem Spiel steht. Wer glaubt, angegriffen zu werden, sich aber täuscht, kann nicht einfach blindlings zuschlagen – das wäre dann ein Erlaubnistatbestandsirrtum. Anders ist es, wenn ein Angreifer mit einer Scheinwaffe auftritt. Hier ist Dein Wille zur Abwehr genauso beeinträchtigt wie bei einer echten Bedrohung, auch wenn sich hinterher herausstellt, dass die Waffe nicht echt war.

Auch durch Unterlassen kann ein Angriff vorliegen. Denk an den Autofahrer, der nach einem Unfall das schwer verletzte Opfer liegen lässt und sich weigert, Hilfe zu leisten. Verhält er sich so, dass ein Rechtsgut ernsthaft in Gefahr ist, kann Notwehr in Betracht kommen – etwa, wenn ein Dritter ihm den Autoschlüssel entreißt, um den Verletzten ins Krankenhaus zu bringen. Ob dabei eine Garantenstellung bestehen muss oder die allgemeine Hilfeleistungspflicht nach § 323c StGB reicht, ist umstritten. Klar ist aber: Wer sich einfach nur unsolidarisch verhält, ist noch kein Notwehrangreifer.

Keine Notwehr gibt es übrigens bei Schuldnern, die ihre Rechnungen nicht zahlen. Selbst wenn jemand seine fällige und unbezahlte Schuld ignoriert, kannst Du nicht einfach hingehen und ihm unter Anwendung von Gewalt Dein Geld aus der Tasche ziehen. Dafür gibt es das Zwangsvollstreckungsrecht – und eben keine Selbstjustiz.

Gegenwärtigkeit

Der Angriff muss gegenwärtig sein – also gerade passieren, unmittelbar bevorstehen oder noch andauern. Wer bloß Angst hat, irgendwann einmal angegriffen zu werden, kann sich nicht vorsorglich wehren. Anders sieht es aus, wenn die Bedrohung direkt bevorsteht. Greift jemand nach einer Waffe, um Dich anzugreifen, ist das nicht mehr bloß Vorbereitung – der Angriff ist bereits so nah, dass Du handeln darfst.

Gegenwärtigkeit endet erst, wenn die Gefahr vorbei ist. Wer also dem Dieb, der ihm gerade die Geldbörse geklaut hat, nachrennt, kann so lange Notwehr üben, wie die Tat noch nicht abgeschlossen ist – sprich, solange der Täter noch nicht sicher mit der Beute entkommen ist. Trifft man den Dieb aber Stunden später wieder und schlägt ihm die Börse aus der Hand, greift nicht mehr § 32 StGB, sondern es gelten die engen Regeln der Selbsthilfe nach §§ 229, 230 BGB.

Rechtswidrigkeit

Ein Angriff ist nur dann notwehrfähig, wenn er rechtswidrig ist. Das bedeutet: Der Angreifer darf selbst kein Recht haben, sich so zu verhalten. Klingt kompliziert? Ist es aber nicht.

Notwehr gegen Notwehr gibt es nicht. Wenn sich beide Seiten auf Notwehr berufen können, geht das nicht auf. Genauso wenig kannst Du Dich mit Notwehr wehren, wenn Dein Gegner eine rechtliche Erlaubnis hat – zum Beispiel, wenn jemand Dich festhält, weil er Dich auf frischer Tat ertappt hat (§ 127 StPO). Oder wenn er sich auf einen Notstand nach § 904 BGB berufen kann.

Ob der Angreifer schuldhaft handelt, spielt übrigens keine Rolle. Auch wer schuldunfähig ist, kann rechtswidrig angreifen. Allerdings kann das Notwehrrecht dann eingeschränkt sein – etwa, wenn ein Betrunkener oder ein Geisteskranker auf Dich losgeht. Hier wird verlangt, dass Du mildere Mittel nutzt, um den Angriff abzuwehren, sofern das möglich ist.

Eine besondere Frage stellt sich beim hoheitlichen Handeln. Wie sieht es aus, wenn ein Polizist Gewalt anwendet? Ist das automatisch rechtswidrig, wenn es sich später als unzulässig herausstellt? Oder kommt es auf den äußeren Anschein an? Die Meinungen gehen auseinander. Klar ist: Notwehr gegen den Staat gibt es nicht einfach so. Aber wenn die Maßnahme erkennbar außerhalb des rechtlichen Rahmens liegt, kann sich der Betroffene unter Umständen wehren. Doch Vorsicht – hier bewegt man sich auf dünnem Eis!

Notwehrhandlung

Rechtsgüter des Angreifers

Wer sich auf Notwehr beruft, verteidigt sich immer gegen den Angreifer selbst. Das bedeutet, dass nur dessen Rechtsgüter verletzt werden dürfen. Unbeteiligte Dritte oder die Allgemeinheit müssen dabei außen vor bleiben. Sollte es doch zu einer Schädigung unbeteiligter Personen oder Sachen kommen, ist § 32 StGB nicht mehr einschlägig. Stattdessen könnten andere Rechtfertigungs- oder Entschuldigungsgründe greifen.

Ein Beispiel: Jemand wird in einer Kneipe angegriffen und wehrt sich mit einem Bierkrug. Dann ist er wegen der körperlichen Verletzung des Angreifers durch § 32 StGB gedeckt. Geht der Bierkrug dabei zu Bruch, greift § 32 StGB jedoch nicht. Hier könnte allerdings § 904 BGB als Rechtfertigungsgrund helfen.

Die Rechtsprechung folgt dieser Ansicht im Grundsatz, geht aber in bestimmten Ausnahmefällen weiter als die herrschende Meinung. Sie meint, dass Notwehr auch dann gerechtfertigt sein kann, wenn durch die Verteidigung Universalrechtsgüter wie die Sicherheit des Straßenverkehrs oder Vorschriften des Waffengesetzes beeinträchtigt werden. Dies soll dann gelten, wenn diese Beeinträchtigungen „untrennbar“ mit der Verteidigungshandlung verbunden sind.

Ein Beispiel aus der Praxis: Jemand wird überfallen und flüchtet in ein Auto, das er zweckentfremdet, um den Angreifer abzuhängen. Dabei begeht er eine tatbestandsmäßige Verkehrsgefährdung nach § 315b StGB. Die Rechtsprechung könnte ihn hier durch § 32 StGB decken.

Allerdings ist diese Argumentation nicht unumstritten. Besser wäre es, in solchen Fällen nur den unmittelbar notwehrbedingten Eingriff als gerechtfertigt anzusehen und bei allgemeinen Gefährdungen des Straßenverkehrs eher auf den rechtfertigenden Notstand gem. § 34 StGB auszuweichen.

Erforderlichkeit

Eignung

Eine Notwehrhandlung muss zunächst einmal geeignet sein, den Angriff abzuwehren. Das ist dann der Fall, wenn sie den Angriff sofort und endgültig stoppen kann. Doch auch schwächere Abwehrmaßnahmen können ausreichen, sofern sie den Angriff wenigstens erschweren oder verzögern.

Völlig ungeeignete Handlungen sind selten, können aber vorkommen. Etwa wenn ein Verteidiger einem tatenlos bleibenden Gehilfen durch eine Freiheitsberaubung oder Körperverletzung die Möglichkeit nimmt, sich einzumischen.

Einsatz des mildesten effektiven Mittels

Die Notwehr darf nicht brutaler ausfallen als nötig. Das bedeutet: Es muss das mildeste Mittel gewählt werden, das den Angriff sicher abwehrt. Dabei muss der Angegriffene aber kein Risiko eingehen, das seine Verteidigung unwirksam machen könnte. Hier zeigt sich die besondere „Schneidigkeit“ des Notwehrrechts: Eine Verhältnismäßigkeitsprüfung oder eine Abwägung zwischen den Rechtsgütern von Angreifer und Verteidiger gibt es nicht. Deshalb kann unter Umständen sogar die Tötung eines fliehenden Diebes gerechtfertigt sein.

Flucht oder Ausweichen sind grundsätzlich keine milderen Mittel. Das Recht verlangt nicht, dass der Angegriffene wegläuft. Vielmehr darf er sich zur Wehr setzen. Das zeigt sich in der sogenannten Trutzwehr: Das Recht muss dem Unrecht nicht weichen.

Ein milderes Mittel bedeutet, dass die Rechtsgüter des Angreifers so wenig wie möglich beeinträchtigt werden.

Besonders bei Schusswaffen ist Zurückhaltung gefordert: Ein gestuftes Vorgehen kann erforderlich sein, etwa durch Warnruf, Warnschuss und erst dann gezielten Schuss. Ist eine Warnung aber nicht zumutbar, muss sie nicht erfolgen. Dabei gilt: Ist ein einziger Schuss ausreichend, sind weitere Schüsse unzulässig. Zudem sollte, wenn möglich, auf Beine und nicht auf lebenswichtige Organe gezielt werden. Auch bei Messereinsätzen gilt: Wer den Angreifer durch einen Stich ins Bein stoppen kann, darf ihn nicht in den Bauch stechen.

Verteidigungshandlung

Nicht jede unbeabsichtigte Folge einer Verteidigungshandlung ist relevant. Wenn ein Verteidiger ein riskantes, aber erlaubtes Abwehrmittel wählt und dabei eine ungewollte Nebenwirkung eintritt, bleibt die Tat gerechtfertigt.

Erforderlichkeitsmaßstab

Ob ein Angriff vorliegt, wird objektiv aus der Rückschau geprüft.

Ob die Verteidigung erforderlich war, entscheidet sich jedoch aus der Sicht eines vernünftigen Dritten in der gleichen Situation. Ein Verteidiger muss nicht mehr Zurückhaltung üben, als ein durchschnittlicher Mensch mit gleichem Wissen und unter gleichen Bedingungen. Besonders wichtig ist dieser Punkt bei Bedrohungssituationen wie Banküberfällen oder Geiselnahmen. Wird eine ungeladene Waffe genutzt, um einen Angriff vorzutäuschen, darf sich der Verteidiger darauf verlassen, dass sie echt ist. Falls er sich irrt und den Angreifer tötet, bleibt er gerechtfertigt, weil der Schein für ihn real war.

Vorrang staatlicher Hilfe

Grundsätzlich gilt: Steht effektive staatliche Hilfe bereit, ist Notwehr nicht erforderlich. Das folgt aus dem staatlichen Gewaltmonopol. Allerdings spielt das in der Praxis kaum eine Rolle, denn Notwehr muss immer gegen einen gegenwärtigen Angriff erfolgen. Wenn aber Polizei oder andere Stellen ohne großes Risiko alarmiert werden können, ist Selbstverteidigung nicht zwingend erforderlich.

Antizipierte Notwehr

Was passiert, wenn jemand sich mit automatischen Verteidigungsanlagen schützt? Hier spricht man von antizipierter Notwehr. Das umfasst etwa frei laufende Wachhunde, Fallen oder Selbstschussanlagen. Entscheidend ist, ob diese Vorrichtungen das Gleiche tun würden wie ein Mensch in der Situation.

Greift jemand die Anlage an und wird verletzt, dann liegt keine Präventivnotwehr vor, sondern eine ganz normale Notwehrsituation.

Allerdings kann in manchen Fällen schon die objektive Zurechnung entfallen. Wenn eine Schutzmaßnahme sozialadäquat ist, stellt sie kein unerlaubtes Risiko dar. Wer also über einen hohen Zaun mit Stacheldraht klettert oder trotz Warnschild in einen Bereich mit Wachhunden eindringt, gefährdet sich selbst. In solchen Fällen kann Notwehr schon gar nicht mehr notwendig sein.

Gebotenheit

Das Notwehrrecht ist eine starke Waffe, aber es gibt Situationen, in denen es gezügelt werden muss. Diese Einschränkungen nennt man die sozialethischen Schranken der Notwehr. Das bedeutet, dass der Angegriffene nicht immer sofort zur vollen Gegenwehr greifen darf. Stattdessen kann es sein, dass er erst ausweichen, dann sich schützend verteidigen und erst im letzten Schritt aktiv angreifen darf. In manchen Fällen ist Notwehr sogar völlig ausgeschlossen.

Unerträgliches Missverhältnis zwischen angegriffenem Rechtsgut und Verteidigungshandlung

Das klassische Beispiel: Ein Bauer mit einer Schusswaffe sieht einen Obstdieb fliehen und schießt ihm in die Beine. Hier besteht zweifellos eine Notwehrlage. Aber darf er wirklich zur Waffe greifen? Nein, denn die Verteidigung steht in einem krassen Missverhältnis zum Angriff. Die Rechtsordnung erlaubt es nicht, mit Kanonen auf Spatzen zu schießen. Wo genau die Grenze verläuft, ist nicht immer klar. Der BGH hat jedenfalls entschieden, dass eine tödliche Abwehrhandlung zur Rettung von 2.500 Euro nicht pauschal als Bagatelle gewertet werden kann. Generell liegt die Grenze aber eher bei 100-200 Euro als bei 500 Euro.

Ein weiteres Beispiel für übertriebene Verteidigung ist die sogenannte „Unfugabwehr„. Wer im Gedränge geschubst wird oder sich durch lautes Telefonieren gestört fühlt, hat keinen Grund, mit körperlicher Gewalt zu reagieren – eine Notwehrlage besteht hier erst gar nicht.

Besondere Angreifer

Wer von einem Kind oder einem schuldlos Handelnden wie einem Geisteskranken oder einem Volltrunkenen angegriffen wird, darf sich nicht sofort mit voller Härte verteidigen. Hier verlangt die Rechtsordnung Zurückhaltung. Erst wenn keine Ausweichmöglichkeit mehr besteht und alle anderen Schutzmöglichkeiten ausgeschöpft sind, darf zur aktiven Gegenwehr übergegangen werden – notfalls auch bis zur tödlichen Abwehr.

Enge persönliche Beziehungen

In engen persönlichen Beziehungen, etwa zwischen Ehepartnern, kann das Notwehrrecht ebenfalls eingeschränkt sein. Eine Frau, die von ihrem Mann geschlagen wird, muss in manchen Fällen zunächst ausweichen oder leichte Verletzungen hinnehmen. Sie ist jedoch keinesfalls verpflichtet, sich schwerwiegende Angriffe gefallen zu lassen. Sobald eine Bedrohung existenziell wird, entfällt jede besondere Einschränkung des Notwehrrechts.

Allerdings ist umstritten, ob überhaupt eine Notwehrminderung aufgrund der Ehe gelten darf. Kritiker meinen, dass eine solche Einschränkung die unterlegene Person – meist die Frau – schwächt und häusliche Gewalt indirekt begünstigt.

Notwehrprovokation

Eine Notwehrlage kann auch dann bestehen, wenn man den Angriff selbst herausgefordert hat. Hier kommt es auf das Maß der Provokation an. Hat man sich lediglich unvorsichtig verhalten, bleibt das Notwehrrecht grundsätzlich bestehen. Wer aber bewusst provoziert, um später zuschlagen zu können, kann sich nicht auf Notwehr berufen.

Ein Beispiel: Jemand öffnet in der Bahn immer wieder das Fenster, um einen aggressiven Mitfahrer zu ärgern, und wird schließlich von diesem attackiert. Der BGH hat in einem ähnlichen Fall entschieden, dass eine solche Provokation das Notwehrrecht einschränken kann.

Noch deutlicher ist der Fall der Absichtsprovokation. Wer gezielt einen Angriff herausfordert, um sich dann unter dem Deckmantel der Notwehr zur Wehr setzen zu können, missbraucht das Recht. Hier ist das Notwehrrecht ausgeschlossen.

Subjektives Rechtfertigungselement

Wenn Du Dich mit § 32 StGB beschäftigst, stellt sich eine knifflige Frage: Reicht es, dass jemand weiß, dass er sich in einer Notwehrlage befindet und handelt, um sich zu verteidigen? Oder muss er auch das Ziel haben, genau das zu tun – also mit Absicht verteidigen wollen?

Die Rechtsprechung und ein Teil der Literatur setzen die Hürden höher. Sie sagen: Notwehr setzt nicht nur das Wissen um die Lage voraus, sondern auch eine Verteidigungsabsicht. Als Argument wird der Wortlaut von § 32 StGB herangezogen – genauer gesagt das kleine Wörtchen „um … zu“. Es klingt nach einem bewussten Zweck. Die Richter stützen sich dabei zusätzlich auf § 34 StGB, der dieses Absichtserfordernis noch deutlicher macht. Gleichzeitig stellt die Rechtsprechung aber klar, dass Motive wie Wut oder Rache den Verteidigungswillen nicht automatisch ausschließen – solange sie nicht die einzige Triebfeder sind. Wer sich verteidigt, darf also durchaus sauer sein, aber es sollte nicht nur um Rache gehen.

Die wohl herrschende Meinung in der Literatur sieht das anders. Sie hält es für übertrieben, eine bestimmte Absicht zu verlangen. Schließlich geht es darum, dass jemand eine eigentlich verbotene Tat (z. B. eine Körperverletzung) in einer Notwehrsituation begehen darf. Dafür soll es reichen, dass er sich einfach nur bewusst verteidigt – egal mit welcher inneren Einstellung. Sonst, so die Kritik, wären wir beim Gesinnungsstrafrecht: Jemand würde nicht wegen seiner Tat, sondern wegen seiner Motivation bestraft.

Besonders problematisch wird das Ganze in Nothilfefällen. Stell Dir vor, jemand wird angegriffen und ein Dritter eilt zur Hilfe. Nach der strengen Sichtweise müsste dieser Helfer nicht nur wissen, dass er in einer Notwehrlage ist, sondern auch mit der Absicht handeln, den Angegriffenen zu retten. Hat er aber eigentlich nur Lust, dem Angreifer eins auszuwischen, könnte er sich selbst strafbar machen – obwohl sein Handeln objektiv gerechtfertigt ist! Und wenn er aus Angst vor dieser Strafbarkeit gar nichts tut? Dann könnte ihm wiederum eine Strafe drohen, zum Beispiel wegen unterlassener Hilfeleistung (§ 323c StGB). Ein echtes Dilemma.