Der entschuldigende Notstand in § 35 StGB ist ein Entschuldigungsgrund, der den Täter trotz einer rechtswidrigen Tat unter bestimmten Umständen von der Schuld freistellt. Dabei liegt die Begründung – ähnlich wie beim Notwehrexzess nach § 33 StGB – in einer doppelten Schuldminderung. Zum einen berücksichtigt das Gesetz, dass der Täter sich in einer extremen Zwangslage befindet, in der ein rechtmäßiges Verhalten kaum zu erwarten ist. Zum anderen wiegt die Rechtsordnung das Unrecht der Tat ab und erkennt an, dass zumindest das Handlungsunrecht und – wenn die Rettung gelingt – auch das Erfolgsunrecht gemindert sind. Die Tat bleibt aber rechtswidrig und wird von der Rechtsordnung nicht gebilligt. Daraus ergeben sich wichtige Konsequenzen: Es ist erlaubt, sich gegen eine entschuldigte Notstandstat mit Notwehr zu verteidigen, und auch eine Teilnahme an der Tat ist möglich, da eine vorsätzliche rechtswidrige Haupttat vorliegt.

Auf den ersten Blick mag § 35 StGB dem rechtfertigenden Notstand aus § 34 StGB ähneln, doch es gibt klare Unterschiede. Die Notstandslage ist bei § 35 StGB enger gefasst. Während § 34 StGB eine Gefahr für jedes beliebige Rechtsgut abdeckt, schützt § 35 StGB nur die Rechtsgüter Leben, Leib oder Freiheit.

Zudem ist die Hilfeleistung nur zugunsten von Angehörigen oder anderen nahestehenden Personen möglich – für fremde Dritte gibt es hier keine Entschuldigung.

Auf der anderen Seite verlangt § 35 StGB keine Interessenabwägung, was ihn insoweit großzügiger macht. Allerdings zieht § 35 Abs. 1 S. 2 StGB auch wieder Grenzen und fordert in bestimmten Fällen die Hinnahme der Gefahr.

Notstandslage

Für eine Entschuldigung nach § 35 StGB müssen mehrere Voraussetzungen erfüllt sein. Erstens muss eine Notstandslage vorliegen. Hierunter versteht man eine gegenwärtige Gefahr für Leben, Leib oder Freiheit. Andere Rechtsgüter, wie beispielsweise das Eigentum, sind nicht geschützt. Es muss also eine erhebliche Gefahr für die körperliche Unversehrtheit, die Fortbewegungsfreiheit oder das Leben bestehen. Dabei genügt nicht jede noch so geringe Beeinträchtigung. Ein Beispiel verdeutlicht das: Wenn jemand aus Angst vor einem Einbrecher seine Wohnung nicht mehr verlässt, ist nur seine Willensfreiheit betroffen, nicht jedoch seine körperliche Fortbewegungsfreiheit. Damit ist § 35 StGB nicht einschlägig.

Die Gefahr muss den Täter selbst, einen Angehörigen oder eine andere ihm nahestehende Person betreffen. Als Angehörige gelten Personen, die unter § 11 Abs. 1 Nr. 1 StGB fallen, also etwa Ehegatten, Eltern oder Kinder. Andere nahestehende Personen sind Menschen, zu denen der Täter eine enge, auf Dauer angelegte persönliche Beziehung pflegt – etwa Lebenspartner oder enge Freunde. In besonderen Fällen können auch Mitglieder einer Wohngemeinschaft darunterfallen. Der Kreis der geschützten Personen ist also bewusst eingeschränkt.

Weiterhin muss die Gefahr gegenwärtig sein. Das bedeutet, dass sie unmittelbar bevorsteht, gerade eintritt oder noch fortdauert.

Notstandshandlung

Zweitens muss eine Notstandshandlung erfolgen, die eine rechtswidrige Tat darstellt.

Das Mittel, mit dem die Gefahr abgewendet wird, muss erforderlich sein. Dabei gilt das Prinzip des mildesten Mittels: Die Tat darf nicht anders abwendbar sein. Anders als beim rechtfertigenden Notstand nach § 34 StGB erfolgt aber keine umfassende Interessenabwägung. Nur wenn die Rechtsgüter in einem extremen Missverhältnis zueinanderstehen, greift § 35 Abs. 1 Satz 2 StGB als Korrektiv ein.

Rettungsabsicht

Drittens setzt § 35 StGB eine Rettungsabsicht voraus. Der Täter muss also handeln, um die Gefahr abzuwenden. Bloße Kenntnis der Gefahr genügt nicht. Fehlt diese subjektive Komponente, wird der Täter wegen der begangenen Tat bestraft.

Ein klassisches Beispiel für den entschuldigenden Notstand ist der berühmte „Brett-des-Karneades„-Fall: Ein Schiffbrüchiger stößt einen anderen von einem Rettungsbrett, um sein eigenes Leben zu retten. Da auf beiden Seiten das Rechtsgut Leben steht, scheidet eine Rechtfertigung nach § 34 StGB aus. § 35 StGB kann den Täter jedoch entschuldigen.

Zumutbarkeit der Gefahrenhinnahme

Selbst wenn alle Voraussetzungen des § 35 Abs. 1 S. 1 StGB erfüllt sind, kann die Entschuldigung nach § 35 Abs. 1 S. 2 StGB ausgeschlossen sein. Hier geht es um die sogenannte Zumutbarkeit der Gefahrtragung. Das Gesetz nennt zwei typische Fälle, in denen dem Täter zugemutet wird, die Gefahr hinzunehmen.

Der erste Fall betrifft die Selbstverursachung der Gefahr. Wenn der Täter die Gefahr schuldhaft – also vorsätzlich oder fahrlässig – herbeigeführt hat, muss er sie grundsätzlich selbst tragen. In solchen Fällen greift die Entschuldigung nicht. Wer also ohne Schwimmweste aufs Meer hinausfährt und dann ein anderes Leben gefährdet, um sich zu retten, kann sich nicht auf § 35 StGB berufen.

Der zweite Fall betrifft Personen mit besonderen Rechtsverhältnissen, etwa Polizisten, Feuerwehrleute oder Ärzte. Diese Berufsgruppen haben aufgrund ihrer Tätigkeit eine erhöhte Gefahrtragungspflicht. Ein Feuerwehrmann muss beispielsweise das Risiko einer Rauchvergiftung in Kauf nehmen und darf nicht unter Berufung auf § 35 StGB eine Straftat begehen, um sich selbst zu retten. Allerdings hat auch diese Pflicht Grenzen. Niemand ist verpflichtet, den sicheren Tod in Kauf zu nehmen. In einem Bergsteigerfall etwa muss ein Bergführer nicht sein eigenes Leben opfern, um einen Kameraden zu retten.

Schließlich gibt es eine allgemeine Zumutbarkeitsklausel, die weitere Fälle erfasst. Dazu gehören etwa Eltern, die gegenüber ihren Kindern eine Schutzpflicht haben. Ebenso darf die Notstandshandlung nicht in einem extremen Missverhältnis zum drohenden Schaden stehen. Auch hier kann die Entschuldigung ausgeschlossen sein. Die allgemeinen Duldungspflichten aus dem Notwehrrecht gehören ebenfalls in diesen Bereich: Gegen berechtigte Notwehr gibt es keine entschuldigte Gegenwehr.