Der sogenannte Nötigungsnotstand ist ein spannendes Feld, bei dem es schnell knifflig werden kann. Sobald jemand durch Gewalt oder Drohung zu einer Tat gezwungen wird, stellt sich die Frage: Ist das noch zu rechtfertigen oder zumindest zu entschuldigen? Wer bei der Prüfung von § 34 StGB – dem rechtfertigenden Notstand – nicht weiterkommt, landet oft bei § 35 StGB, dem entschuldigenden Notstand. Genau hier spielt der Nötigungsnotstand seine Hauptrolle. Denn wenn das bedrohte Rechtsgut nicht eindeutig überwiegt oder § 34 StGB aus anderen Gründen nicht greift, ist § 35 StGB die nächste Station.

Von einem Nötigungsnotstand spricht man, wenn ein Dritter mittels einer Nötigung (§ 240 StGB) eine gegenwärtige Gefahr hervorruft, durch die der Genötigte zu einem Eingriff in Rechtsgüter Unbeteiligter gezwungen werden soll. Ein klassisches Beispiel dafür ist die Bedrohung von Zeugen. Dabei ist umstritten, ob sich der Genötigte auf § 34 StGB berufen kann, sofern dessen sonstige Voraussetzungen erfüllt sind. Die spannende Frage dabei lautet: Wird der Genötigte gerechtfertigt oder nur entschuldigt? Genau an diesem Punkt streiten sich die Meinungen.

Rechtfertigungslösung

Die sogenannte Rechtfertigungslösung vertritt die Ansicht, dass § 34 StGB uneingeschränkt anwendbar ist. Diese Meinung beruft sich auf den Wortlaut des Gesetzes, der keine Einschränkungen vorsieht. Zudem argumentiert sie, dass auch ein genötigter Täter die Solidarität der Rechtsgemeinschaft verdiene – also die Opferbereitschaft Dritter. Außerdem gibt es im Ordnungswidrigkeitenrecht mit § 16 OWiG nur eine dem § 34 StGB entsprechende Regelung, aber keine Vorschrift, die § 35 StGB ähnelt.

Entschuldigungslösung

Dem widerspricht die wohl überwiegende Meinung, die als Entschuldigungslösung bekannt ist. Sie sieht in solchen Fällen keine Rechtfertigung, sondern nur eine Entschuldigung nach § 35 StGB. Ihr Hauptargument: Der Genötigte tritt – wenn auch gezwungenermaßenbewusst auf die Seite des Unrechts.

Besonders problematisch wäre es, wenn man dem Genötigten eine Rechtfertigung zugesteht. Dann würde man dem Unbeteiligten, der beispielsweise vom Genötigten verprügelt werden soll, sein Notwehrrecht nehmen. Und als drittes Argument führt diese Meinung an, dass der nötigende Hintermann durch gravierende Drohungen gezielt eine Rechtfertigung schaffen könnte – und sich so sogar seiner eigenen Bestrafung als Anstifter entziehen könnte.

Differenzierende Betrachtung

Die überzeugendste Lösung ist eine differenzierende Betrachtung. Einerseits greift § 35 StGB enger als § 34 StGB, weil er bestimmte Fälle, wie die Nötigung zu einer Sachbeschädigung, nicht erfasst. Andererseits zieht die Rechtfertigungslösung die Solidaritätspflicht zu weit – sie würde Unbeteiligten in unzumutbarer Weise das Notwehrrecht nehmen. Die Grenze ist erreicht, wenn es um gravierende Beeinträchtigungen von Individualrechtsgütern geht. Sobald der Genötigte dazu gezwungen wird, das Leben, die körperliche Unversehrtheit oder die Freiheit eines Unbeteiligten erheblich zu verletzen, ist eine Rechtfertigung auszuschließen. In solchen Fällen kommt nur eine Entschuldigung in Betracht.

Schauen wir uns das an einem Beispiel an: Autofahrer A hat aus Fahrlässigkeit den einjährigen Sohn von T getötet. T ist körperlich überlegen und will sich rächen – und zwar auf brutale Weise. Er zwingt A, seine schlafende einjährige Tochter zu ersticken. Dazu taucht T bei A zu Hause auf und prügelt so heftig auf ihn ein, dass A die Schmerzen irgendwann nicht mehr erträgt. Aus purer Verzweiflung drückt er mit Tötungsvorsatz ein Kissen auf das Gesicht des Kindes. Das Kind überlebt zwar, aber jetzt stellt sich die Frage: Wie steht es um die Strafbarkeit von A und T? Bevor wir die Lage für A prüfen, ist eines klar: Eine Rechtfertigung nach § 32 StGB – also Notwehr – kommt nicht infrage. Warum? Weil Notwehr nicht erlaubt, dass man dabei Unbeteiligte in Gefahr bringt. Und genau das wäre hier der Fall. Auch § 34 StGB hilft A nicht weiter, denn die körperliche Unversehrtheit von A wiegt nicht so schwer, dass sie das Leben des Kindes in den Hintergrund drängen könnte. Damit ist auch die Frage hinfällig, ob § 34 StGB überhaupt auf solche Nötigungssituationen anwendbar ist. Also bleibt § 35 StGB. Hier sind die Voraussetzungen für eine Entschuldigung grundsätzlich erfüllt: A war in einer gegenwärtigen Gefahr für Leib und Leben – immerhin wurde er brutal zusammengeschlagen. Aber es gibt einen Haken: Könnte man von A verlangen, die Gefahr hinzunehmen? Genau das regelt § 35 Abs. 1 S. 2 StGB. Wenn es zumutbar gewesen wäre, die Schläge auszuhalten, scheidet die Entschuldigung aus. Ob das hier der Fall ist, bleibt letztlich eine Frage des Einzelfalls und kann unterschiedlich beurteilt werden.