Wenn die Regeln des Gesetzes an ihre Grenzen stoßen, taucht der sogenannte übergesetzliche entschuldigende Notstand auf. Dabei geht es um Situationen, in denen jemand eine rechtswidrige Tat begeht, um eine größere Katastrophe zu verhindern – und für die das Gesetz keine direkte Entschuldigung bereithält. Der Gedanke dahinter: Es gibt Fälle, in denen es nicht gerecht wäre, einen Täter zu bestrafen, obwohl er objektiv gegen das Gesetz verstoßen hat. Das hängt eng mit § 35 Abs. 1 S. 1 StGB zusammen, der eine Entschuldigung bei Gefahr für das eigene Leben oder das naher Angehöriger vorsieht. Aber dieser Paragraf stößt an seine Grenzen, wenn die Bedrohung nicht den Täter selbst oder eine ihm nahestehende Person betrifft.

Das Thema ist nicht neu. Schon in den Euthanasie-Verbrechen des Dritten Reichs wurde es diskutiert, aber erst nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001 kam es wieder richtig auf den Tisch – besonders im berühmten Flugzeugabschuss-Fall. Hierbei ging es um die Frage, ob es erlaubt sein könnte, ein entführtes Flugzeug abzuschießen, um zu verhindern, dass es in ein vollbesetztes Stadion stürzt. Im Kern dreht sich alles um den sogenannten quantitativen Lebensnotstand: Darf man einige wenige Menschen opfern, um eine größere Zahl zu retten?

Ein klassisches Beispiel ist der Bergsteiger-Fall: Ein Retter schneidet das Seil eines abgestürzten Bergsteigers durch, um die übrige Seilschaft zu retten. Oder stell Dir vor, ein Außenstehender wirft jemanden aus einem überfüllten Rettungsboot, damit es nicht sinkt und alle an Bord sterben. Rein rechtlich erfüllt keine dieser Handlungen die Voraussetzungen des § 35 Abs. 1 S. 1 StGB. Warum? Weil die Gefahr nicht dem Täter selbst oder einer ihm nahestehenden Person droht. Trotzdem könnte man sagen: Wer sich in einer solchen ausweglosen Konfliktsituation befindet, verdient Nachsicht.

Der Gedanke der „doppelten Schuldminderung“ greift hier: Wenn der Täter durch sein Nichtstun den Tod vieler Menschen nicht verhindern kann, bringt ihn das in eine seelische Notlage, die vergleichbar ist mit der Bedrohung des eigenen Lebens oder dem eines Angehörigen. Es ist nachvollziehbar, dass jemand in einer solchen Situation eine Entscheidung trifft, die objektiv rechtswidrig ist, aber moralisch vielleicht nicht vollständig verwerflich erscheint. Entscheidend ist, dass der übergesetzliche Entschuldigungsgrund wirklich die Ausnahme bleibt. Daher müssen grundsätzlich alle Voraussetzungen des entschuldigenden Notstandes gem. § 35 StGB auch hier gelten.

Allerdings reicht es bei der Notstandslage aus, wenn eine konkrete Lebensgefahr besteht, die den Täter in eine schwere seelische Konfliktsituation bringt. Außerdem muss die rechtswidrige Tat das einzige Mittel sein, um ein größeres Übel zu verhindern. Irrt sich der Täter über das Vorliegen einer solchen Gefahr, wird § 35 Abs. 2 StGB entsprechend angewendet.

Im Detail lassen sich zwei Fallgruppen unterscheiden:

Opfer bereits in Lebensgefahr

Die erste Gruppe betrifft Situationen, in denen alle Betroffenen ohnehin bereits in Lebensgefahr schweben. Hier entscheidet sich der Täter für das kleinere Übel, indem er wenige Menschen opfert, um viele zu retten. Ein Paradebeispiel ist der Weichensteller-Fall: Ein Bahnangestellter lenkt einen außer Kontrolle geratenen Zug auf ein Nebengleis, um einen vollbesetzten Personenzug zu retten – obwohl er weiß, dass auf dem Nebengleis Arbeiter getötet werden.

Opfer noch nicht in Lebensgefahr

Die zweite Gruppe ist komplizierter: Darf man auch dann eine übergesetzliche Entschuldigung anerkennen, wenn die Opfer vorher nicht in Gefahr waren? Die herrschende Meinung sagt: Ja, denn am verminderten Unrechtsgehalt ändert sich dadurch nichts. Ein Beispiel ist wieder der Flugzeugabschuss-Fall: Hier wird ein entführtes Passagierflugzeug über einem wenig besiedelten Gebiet abgeschossen, um zu verhindern, dass es auf ein volles Stadion stürzt. Auch wenn dabei Unbeteiligte getötet werden, würde die herrschende Meinung dem Abschuss eine übergesetzliche Entschuldigung zubilligen.

Unterm Strich bleibt der übergesetzliche entschuldigende Notstand ein rechtlicher Drahtseilakt. Es geht um extreme Ausnahmefälle, in denen das Recht aus moralischen Gründen eine Hintertür offenhält. Aber diese Tür ist schmal und bleibt nur dann offen, wenn es wirklich keinen anderen Ausweg gibt und die Rettung eines größeren Guts nicht anders möglich ist.