Es klingt erstmal logisch: Nicht nur, wer aktiv handelt, kann sich strafbar machen, sondern auch, wer einfach nichts tut – also durch Unterlassen. Stell Dir vor, eine Mutter vergiftet den Brei ihres Kindes. Das ist ein aktives Töten. Lässt sie ihr Kind aber verhungern, ist das ebenfalls eine Form der Tötung – nur eben durch Nichtstun. Oder ein anderes Beispiel: Du stößt jemanden mit Tötungsabsicht ins Wasser, obwohl Du weißt, dass er nicht schwimmen kann. Das ist eine aktive Handlung. Aber wenn Du tatenlos zusiehst, wie jemand im Wasser um sein Leben kämpft und schließlich ertrinkt, kannst Du ebenfalls für seinen Tod verantwortlich sein. Ob dieses Unterlassen strafrechtlich relevant ist, hängt davon ab, ob Du rechtlich verpflichtet warst, einzugreifen. Hier kommt es auf den Unterschied zwischen echten und unechten Unterlassungsdelikten an.

Echte und unechte Unterlassung

Echte Unterlassungsdelikte sind diejenigen, bei denen das Gesetz ausdrücklich vorschreibt, dass man in bestimmten Situationen handeln muss. Wenn Du das unterlässt, verstößt Du direkt gegen diese Pflicht. Ein Klassiker ist die unterlassene Hilfeleistung nach § 323c Abs. 1 StGB. Sieht jemand einen Verletzten am Straßenrand und hilft nicht, obwohl es ihm zumutbar wäre, ist das strafbar – einfach, weil das Gesetz es so verlangt.

Bei den unechten Unterlassungsdelikten wird es etwas komplizierter. Hier geht es um Fälle, in denen ein eigentlich aktives Straftatbestandsverhalten durch das bloße Nichtstun erfüllt werden kann – vorausgesetzt, es gibt eine spezielle Pflicht zum Handeln. Diese Pflicht nennt man Garantenstellung, und sie ist in § 13 StGB geregelt. Unechte Unterlassungsdelikte sind also keine eigenständigen Tatbestände, sondern jedes Begehungsdelikt aus dem Strafgesetzbuch kann durch Unterlassen verwirklicht werden – solange eine Garantenpflicht besteht. Ob Totschlag, Körperverletzung oder Diebstahl: Wer verpflichtet ist einzugreifen und es nicht tut, kann sich genauso strafbar machen wie jemand, der aktiv handelt. Ein kleiner Trost: § 13 Abs. 2 StGB sieht die Möglichkeit vor, die Strafe zu mildern. Trotzdem ist der Unterschied zur Strafbarkeit eines Nicht-Garanten gewaltig – wer keine rechtliche Verantwortung hat, kann für sein Nichtstun in der Regel nicht bestraft werden.

Abgrenzung Tun und Unterlassen

Die Abgrenzung zwischen Tun und Unterlassen klingt erstmal nach einer trockenen Formalität, kann aber im Strafrecht richtig spannend werden – vor allem, wenn der Täter keine Garantenstellung hat. Ohne diese besondere Pflicht zu handeln, kommt bei einem bloßen Unterlassen meistens nur die unterlassene Hilfeleistung nach § 323c Abs. 1 StGB in Frage. Bei Personen mit Garantenstellung sieht es anders aus: Für sie gibt es bei einem Unterlassen die Möglichkeit einer Strafmilderung nach § 13 Abs. 2 StGB.

Im Normalfall scheint die Unterscheidung einfach: Wer durch körperliche Energie die Außenwelt verändert, handelt aktiv. Wer hingegen untätig bleibt, obwohl er eingreifen könnte, unterlässt.

Kompliziert wird es, wenn ein Verhalten sowohl aktive als auch passive Anteile hat. Über die genauen Kriterien zur Abgrenzung gibt es Streit. Eine Meinung aus der Literatur betont den Energieeinsatz: Wer durch körperliche Anstrengung den tatbestandlichen Erfolg verursacht, handelt aktiv. Das klingt nachvollziehbar, stößt aber an Grenzen. Manchmal ist die Unterlassungskomponente trotz Energieeinsatzes gewichtiger. Deshalb folgt die Rechtsprechung einer anderen Linie: Sie sieht die Abgrenzung als Wertungsfrage. Entscheidend ist, wo im konkreten Fall der Schwerpunkt der Vorwerfbarkeit liegt. Dieser wertende Ansatz hat den Vorteil, dass er das Energiekriterium als zusätzliches Hilfsmittel einbeziehen kann.

Besonders oft taucht das Problem bei Fahrlässigkeitsdelikten auf. Das überrascht nicht, weil Fahrlässigkeit fast immer eine Pflichtverletzung voraussetzt, die oft ein Unterlassungsmoment beinhaltet. Ein paar Beispiele machen das greifbarer: Ein Fabrikbesitzer gibt Ziegenhaare aus, ohne sie ordnungsgemäß zu desinfizieren. Mehrere Arbeiter infizieren sich und sterben. Ein Radfahrer fährt ohne Licht und verletzt ein Kind. Ein Herzchirurg führt Operationen durch, obwohl er sich pflichtwidrig nicht auf Hepatitis B hat untersuchen lassen. Eine Mutter lässt ihre dreijährige Tochter allein in der Wohnung zurück, obwohl sie weiß, dass das Kind schon einmal Herdplatten eingeschaltet hat. Während ihrer Abwesenheit kommt das Kind bei einem durch den Herd ausgelösten Brand ums Leben. In den ersten drei Fällen liegt der Schwerpunkt der Vorwerfbarkeit beim aktiven Tun – der Fabrikbesitzer gibt die Haare aus, der Radfahrer fährt ohne Licht, der Chirurg operiert. Im vierten Fall sieht es anders aus: Hier wiegt die Unterlassung schwerer. Das Problem ist nicht das Weggehen an sich – das ist grundsätzlich erlaubt. Aber die Mutter hätte Vorsichtsmaßnahmen treffen müssen, um den Brand zu verhindern.

Eine besonders spannende Konstellation ergibt sich, wenn jemand fremde Rettungsbemühungen abbricht. Greift ein Täter aktiv in die Rettung Dritter ein – sei es durch Täuschung oder Gewalt – und verhindert so eine fast sichere Rettung, liegt der Schwerpunkt der Vorwerfbarkeit eindeutig beim aktiven Tun. Stell Dir vor, jemand will einen Ertrinkenden retten. Er könnte Hilfe rufen, einen Rettungsring werfen oder mit dem Boot hinfahren. Wenn ein Dritter diese Rettung verhindert, indem er das Rettungsgerät entfernt oder den Retter täuscht, handelt er aktiv. Hat dieser Dritte Tötungsvorsatz, erfüllt er den Tatbestand des § 212 StGB durch aktives Tun. Selbst ein Eigentümer, der ein Rettungsgerät widerrechtlich vorenthält und sich gegen dessen Wegnahme wehrt, begeht aktives Tun.

Beim Abbruch eigener Rettungsbemühungen wird es kniffliger. Die Frage ist, ab wann das Aufhören oder ein Gegeneingreifen als aktives Tun gewertet wird. Nehmen wir an, jemand könnte einen Ertrinkenden mit einem Rettungsring retten. Zieht er den Ring zurück, bevor der Ertrinkende ihn ergreifen kann, liegt laut herrschender Meinung noch ein Unterlassen vor. Bricht er den Rettungsversuch jedoch ab, nachdem das Opfer den Ring ergriffen hat, handelt er aktiv. Eine andere Ansicht – die überzeugender wirkt – sagt, dass aktives Tun schon dann gegeben ist, wenn der Täter einen hypothetischen Kausalverlauf abbricht, der mit hoher Wahrscheinlichkeit zur Rettung geführt hätte. Diese Ansicht passt besser zu dem Grundgedanken, dass auch die aktive Störung fremder Rettungsversuche als aktives Tun gewertet wird. Warum sollte es bei eigenen Rettungsversuchen anders sein? Diese wertende Betrachtung sorgt dafür, dass Täter nicht durch formale Spitzfindigkeiten aus der Verantwortung entlassen werden.

Unterlassung einer Verhinderungshandlung trotz Handlungsmöglichkeit

Für ein strafbares Unterlassen muss es grundsätzlich möglich sein, den Erfolg durch eine geeignete Rettungs- oder Verhinderungshandlung abzuwenden. Dabei können mehrere Handlungsoptionen in Betracht kommen, solange sie dem Täter physisch und real zur Verfügung stehen.

Es gibt Situationen, in denen der Täter schlicht keine Chance hat, den gebotenen Rettungsakt vorzunehmen. Wenn die Handlung wegen räumlicher Entfernung oder fehlender persönlicher Fähigkeiten unmöglich ist, liegt kein strafbares Unterlassen vor. Ein klassisches Beispiel ist der Nichtschwimmer, der einen Ertrinkenden nicht durch einen Sprung ins Wasser retten kann. Das bedeutet aber nicht, dass er völlig aus der Verantwortung ist. Er könnte etwa Hilfe rufen oder ein Rettungsgerät einsetzen.

Eine spannende Konstellation ergibt sich, wenn sich der Täter vorsätzlich in einen Zustand versetzt, in dem er seine Handlungspflicht später nicht mehr erfüllen kann. Diese Fallgruppe wird als omissio libera in causa bezeichnet. Dabei kann sich ein Garant nicht einfach damit herausreden, dass er im entscheidenden Moment handlungsunfähig war – denn er hat diesen Zustand ja selbst herbeigeführt. Die Grundidee ähnelt der actio libera in causa bei fehlender Schuldfähigkeit, ist aber weniger umstritten. Der Gedanke dahinter ist simpel: Wer eine Garantenstellung innehat, muss dafür sorgen, dass er seine Schutzpflichten auch erfüllen kann. Eine gesetzliche Einschränkung wie bei § 20 StGB gibt es hier nicht, deshalb wird die Vorverlagerung des pflichtwidrigen Verhaltens als zulässig angesehen.

Ein Beispiel macht das Ganze greifbarer: Stell Dir einen Rettungsschwimmer vor, der sich während seines Dienstes so betrinkt, dass er im Ernstfall niemanden mehr retten kann – und das ist ihm völlig egal. Als jemand in eine Strömung gerät und zu ertrinken droht, ist er handlungsunfähig und unternimmt nichts. Auch wenn er in diesem Moment nicht mehr eingreifen kann, wird ihm das als Unterlassen ausgelegt. Weil er den Tod des Ertrinkenden billigend in Kauf genommen hat, erfüllt er die Tatbestände der §§ 212, 13 StGB. Entscheidend ist, dass das Sich-Betrinken nichts am Unterlassungscharakter der Tat ändert – er hätte es einfach nicht so weit kommen lassen dürfen.

Hypothetische Kausalität

Wenn es um die Kausalität bei Unterlassungen geht, betreten wir ein spannendes, aber auch kniffliges Feld – die sogenannte hypothetische Kausalität oder „Quasi-Kausalität„. Denn hier geht es nicht darum, ob eine Handlung den Erfolg tatsächlich verursacht hat, sondern darum, ob die gebotene Handlung den Erfolg mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit verhindert hätte. Damit greift die bekannte Formel der Bedingungstheorie nicht eins zu eins. Sie muss angepasst werden:

Entscheidend ist die Frage, ob der Erfolg mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit ausgeblieben wäre, wenn der Täter die erforderliche Handlung vorgenommen hätte.

Besonders wichtig ist dabei der Erfolg in seiner konkreten Gestalt. Das bedeutet: Es genügt nicht, dass der Erfolg vielleicht in irgendeiner Form hätte verhindert werden können. Es muss vielmehr feststehen, dass gerade der eingetretene Erfolg – also genau das, was passiert ist – durch die gebotene Handlung vermieden worden wäre. Diese Anforderung schützt vor bloßen Mutmaßungen. Die Ergänzung um die Formulierung „mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit“ verdeutlicht, dass es bei hypothetischen Kausalverläufen niemals absolute Gewissheit geben kann. Letztlich handelt es sich also nicht um eine eigenständige Kausalitätsformel, sondern um eine Beweisregel.

Ein Beispiel hilft, das greifbar zu machen: Arzt A verzichtet darauf, den Notarzt zu rufen, weil er den Wunsch seiner schwer kranken Patientin P respektiert, nicht gerettet zu werden. Als er P findet, ist die Vergiftung bereits weit fortgeschritten. Ob der Notarzt den Tod noch hätte verhindern können, bleibt unklar. Kann im Prozess nicht festgestellt werden, dass die Rettung mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit gelungen wäre, gilt der Grundsatz „im Zweifel für den Angeklagten„. Dann wird die Kausalität verneint. Anders wäre es, wenn mit einer Rettung nahezu sicher zu rechnen gewesen wäre. Eine Mindermeinung vertritt allerdings einen anderen Ansatz. Sie hält es für ausreichend, wenn die gebotene Handlung das Risiko des Erfolgseintritts verringert hätte. Dieser Ansatz – als Risikoverminderungslehre bekannt – ist jedoch problematisch. Wer die Anforderungen an die Quasi-Kausalität derart absenkt, verwässert den Kausalitätsbegriff und macht aus Verletzungsdelikten faktisch bloße Gefährdungsdelikte. Deshalb lehnt die herrschende Meinung diese Auffassung ab.

In der Praxis entstehen besondere Schwierigkeiten, wenn die Rettung nicht allein vom Täter abhängt, sondern auch von anderen Personen. Wenn etwa der Täter nur deshalb untätig bleibt, weil er die Unterrichtung einer anderen handlungspflichtigen Person unterlässt, stellt sich die Frage: Was wäre passiert, wenn er die andere Person informiert hätte? Die herrschende Meinung ist hier konsequent. Sie verneint die hypothetische Kausalität, wenn nicht mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit feststeht, dass die informierte Person pflichtgemäß gehandelt und den Erfolg verhindert hätte. Dies verhindert, dass sich der Täter durch den Hinweis auf das hypothetische Fehlverhalten Dritter entlasten kann.

Ein Beispiel: Bauingenieur B überprüft die Dachkonstruktion einer Sporthalle nicht ordnungsgemäß, weshalb gravierende Mängel unentdeckt bleiben. Als das Dach einstürzt, sterben mehrere Besucher. Der BGH hat eine Strafbarkeit des B nach den Vorschriften über fahrlässige Tötung durch Unterlassen verneint. Der Grund: Es konnte nicht sicher festgestellt werden, dass die Stadt als Auftraggeberin nach einer ordnungsgemäßen Information sofort die erforderlichen Maßnahmen ergriffen und den Einsturz verhindert hätte.

Besonders komplex wird es bei Gremienentscheidungen. Wenn mehrere Entscheidungsträger gemeinsam handeln müssen, könnte jeder behaupten, sein Verhalten sei nicht ausschlaggebend gewesen. Doch auch hier bleibt die Kausalität bestehen, wenn der einstimmig gefasste Beschluss den Erfolg herbeigeführt hat. Eine Einzelperson kann sich nicht durch den Hinweis entlasten, dass die anderen ohnehin zugestimmt hätten.

Das zeigt ein drastisches Beispiel: Vier Geschäftsführer beschließen, ein gesundheitsschädliches Produkt nicht zurückzurufen, obwohl es bereits zu schweren Verletzungen bei Verbrauchern geführt hat. Jeder von ihnen könnte argumentieren, dass seine Stimme nicht entscheidend gewesen sei, weil die anderen drei ihn überstimmt hätten. Diese Verteidigung greift jedoch nicht. Wenn alle vorsätzlich gehandelt haben, sind sie als Mittäter zu behandeln. Selbst bei Fahrlässigkeit ändert sich an der Verantwortung nichts, denn die Tat wurde durch das gemeinsame Verhalten verursacht.

Objektive Zurechnung

Bei den unechten Unterlassungsdelikten dreht sich alles um die Frage, ob der Erfolg dem Täter zugerechnet werden kann, obwohl er nichts getan hat. Hier hilft ein Blick auf das Begehungsdelikt, denn die Grundgedanken der objektiven Zurechnung lassen sich auch auf Unterlassungstatbestände übertragen. Die zentrale Frage lautet: Hat sich im eingetretenen Erfolg genau die Gefahr verwirklicht, die durch die pflichtwidrige Untätigkeit des Täters geschaffen oder aufrechterhalten wurde?

Schauen wir uns das an einem Beispiel an: W ist leidenschaftlicher Waffensammler und muss seinen Waffenschrank aus guten Gründen sicher verschließen. Weil W aber die behördlichen Auflagen ignoriert, kann sein Sohn S ungehindert an eine der Waffen gelangen. Damit erschießt S mehrere Menschen und bringt sich schließlich selbst um. Für den Tod von S haftet W allerdings nicht. Warum? Ganz einfach: Die Pflicht, Waffen sicher zu verwahren, soll Dritte vor ungewollten Schädigungen schützen – nicht aber jemanden daran hindern, sich eigenverantwortlich das Leben zu nehmen. S hat frei entschieden, was er tut. W kann dafür nicht verantwortlich gemacht werden.

Noch komplizierter wird es, wenn jemand bewusst den Todeswunsch eines anderen respektiert. Stell Dir vor, D leidet seit ihrer Jugend an einem extrem schmerzhaften Reizdarmsyndrom. Ihr Leben ist dadurch so belastet, dass sie sterben möchte. Arzt A betreut D seit ihrer Kindheit und stellt ihr ein Medikament aus, das in entsprechender Dosierung tödlich wirkt. D nimmt die Medikamente und fällt ins Koma. A verständigt den Notdienst nicht – aus Respekt vor dem Wunsch von D. Ob D hätte gerettet werden können, bleibt unklar. Rein juristisch betrachtet könnte sich A durch sein Unterlassen nach den §§ 212, 216, 13, 22, 23 StGB strafbar gemacht haben. Aber: Weil D eigenverantwortlich gehandelt hat, sieht der BGH in solchen Fällen keine Strafbarkeit für den Arzt. Das Grundrecht auf Selbstbestimmung aus Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG und die entsprechenden Regelungen in den §§ 1901a ff. BGB führen dazu, dass ein freiverantwortlich getroffener Sterbewille respektiert werden muss. Als Garant ist der Arzt daher nicht verpflichtet, gegen den ausdrücklichen Willen der Betroffenen zu handeln.

Garantenstellung

Wenn es um unechte Unterlassungsdelikte geht, stellt sich eine entscheidende Frage: Wer muss eigentlich handeln, um einen bestimmten Erfolg zu verhindern? Die Antwort liefert § 13 Abs. 1 StGB. Dort steht, dass nur derjenige Täter sein kann, der „rechtlich dafür einzustehen hat„, dass der Erfolg nicht eintritt. Mit diesem unscheinbaren Satz wird das zentrale Kriterium für die Gleichstellung von aktivem Tun und passivem Unterlassen beschrieben. Laut BVerfG genügt diese Formulierung auch dem Bestimmtheitsgrundsatz aus Art. 103 Abs. 2 GG.

Früher hat man Garantenstellungen eher nach formalen Kriterien und bestimmten Rechtsquellen bestimmt. Diese sogenannte Rechtsquellenlehre nannte vier Hauptquellen für die Entstehung einer Garantenpflicht: aus Gesetzen, aus Vertrag oder tatsächlicher Übernahme, aus engen persönlichen Beziehungen oder Gefahrengemeinschaften und schließlich aus vorhergehendem gefährdenden Tun – auch Ingerenz genannt.

Das klingt erstmal schön übersichtlich, hat aber einen Haken: Nur weil eine Quelle genannt wird, sagt das noch nichts darüber aus, wie weit die daraus folgende Pflicht reicht. Genau hier setzt die moderne Funktionenlehre an. Statt sich auf formale Kategorien zu verlassen, schaut sie auf den Inhalt der jeweiligen Verantwortung und ordnet alle Garantenpositionen zwei Grundtypen zu: der Beschützergarantenstellung und der Überwachungsgarantenstellung.

Wer eine Beschützergarantenstellung hat, muss ein bestimmtes Rechtsgut – also eine Person oder eine Sache – vor Gefahren von außen bewahren. Man könnte sagen, er oder sie steht wie ein Schutzschild zwischen dem gefährdeten Gut und der Welt. Klassische Beispiele gibt es genug: Eine Mutter muss ihr Kind schützen, ein Rettungsschwimmer den Badegast, ein Arzt seine Patienten. Aber auch ein Geschäftsführer hat die Pflicht, das Firmeneigentum zu sichern, und ein Amtsträger muss die Umwelt vor Schäden bewahren. Wer in einer solchen Position ist, kann sich also nicht einfach darauf zurückziehen, nichts getan zu haben – gerade das kann strafbar sein.

Bei der Überwachungsgarantenstellung ist es genau umgekehrt. Hier geht es nicht darum, jemanden oder etwas zu schützen, sondern eine Gefahr im Zaum zu halten, bevor sie Schaden anrichtet. Wer so eine Pflicht hat, muss sicherstellen, dass eine ihm anvertraute Gefahrenquelle keine Dritten verletzt. Auch dafür gibt es handfeste Beispiele: Der Tierhalter muss verhindern, dass sein Hund jemanden beißt. Der Eigentümer eines Hauses muss dafür sorgen, dass keine Ziegel von seinem Dach auf Passanten fallen. Und wer die Aufsicht über eine Person hat, die zu Straftaten neigt, darf sie nicht einfach gewähren lassen. Die Verantwortung bezieht sich also direkt auf die Kontrolle von Gefahren.

Der Vorteil dieser Zweiteilung ist, dass sie sich auf die reale Verantwortung konzentriert. Es kommt nicht mehr nur darauf an, woher eine Pflicht formal stammt, sondern worin sie konkret besteht. Diese funktionale Betrachtung hat unter anderem dazu geführt, dass die früher automatisch angenommene Garantenstellung zwischen Ehegatten kritisch hinterfragt wurde. Heute wird stärker danach gefragt, welche Schutz- oder Überwachungspflichten tatsächlich bestehen – und weniger danach, ob man einfach in einer bestimmten Beziehung zueinandersteht.

Aber Vorsicht: Ganz aus dem Spiel sind die alten Kategorien der Rechtsquellenlehre nicht. Sie spielen immer noch eine wichtige Rolle, wenn es darum geht, im Einzelfall zu klären, ob eine Garantenstellung besteht oder nicht. Nur weil jemand moralisch verpflichtet wäre, einzugreifen, reicht das jedenfalls nicht aus. § 13 StGB spricht ausdrücklich von „rechtlich“ begründeten Einstandspflichten. Das heißt: Eine Garantenstellung muss immer auf einer klaren Rechtsgrundlage beruhen. Aus den echten Unterlassungsdelikten wie § 138 oder § 323c StGB – also der Anzeigepflicht bei geplanten Straftaten oder der unterlassenen Hilfeleistung – darf deshalb keine Garantenstellung hergeleitet werden. Diese Vorschriften richten sich an alle Bürgerinnen und Bürger gleichermaßen und setzen keine besondere rechtliche Verantwortung voraus.

Beschützergaranten

Familiäre Verbundenheit

Wenn es um die Beschützergaranten geht, wird es schnell kompliziert. Gerade bei der familiären Verbundenheit gibt es einige Streitfragen, die sich seit der Einführung der Unterscheidung zwischen Beschützer- und Überwachungsgaranten ergeben haben. Klar ist: Es reicht nicht, einfach nur verwandt zu sein. Vielmehr braucht es zusätzlich ein tatsächliches Obhutsverhältnis, bei dem man sich gegenseitig unterstützt und füreinander sorgt. Das zeigt sich besonders deutlich bei Eltern und ihren minderjährigen Kindern, die in einem Haushalt zusammenleben. Hier gibt es keinen Zweifel: Eltern sind immer Beschützergaranten.

Aber wie sieht es bei anderen Verwandten aus? Bei Großeltern, Adoptiv- oder Pflegeeltern lässt sich das meist genauso bejahen. Schwieriger wird es bei volljährigen Kindern, die das Elternhaus verlassen haben. Wenn das Verhältnis intakt ist und es trotz Auszug ein enges Vertrauensverhältnis gibt, bleibt die Garantenstellung bestehen. Wenn der Auszug aber aufgrund eines schweren Zerwürfnisses erfolgt, entfällt sie. Ähnlich verhält es sich bei Geschwistern: Solange sie in einer häuslichen Gemeinschaft zusammenleben, gibt es eine Beistandspflicht. Doch bloßes Zusammenwohnen reicht nicht aus, um eine Garantenstellung zu begründen – darauf hat sich das Landgericht Kiel klar festgelegt.

Auch Ehegatten sind ein klassisches Beispiel für Beschützergaranten. Das ergibt sich aus dem Gesetz: Nach § 1353 BGB sind Ehegatten zur ehelichen Lebensgemeinschaft und zum gegenseitigen Beistand verpflichtet. Interessant wird es, wenn die Ehe faktisch am Ende ist. Nicht jeder Streit oder eine räumliche Trennung hebt die Garantenstellung auf. Entscheidend ist, ob die Eheleute ernsthaft und dauerhaft getrennt sind und keine Wiederherstellung der ehelichen Gemeinschaft mehr wollen. Genau das hat der BGH klargestellt: Wenn ein Ehepartner die Ehe endgültig beendet, endet auch die strafrechtliche Garantenpflicht.

Enge persönliche Lebensbeziehungen

Über die Familie hinaus kann eine Garantenstellung auch aus engen persönlichen Lebensbeziehungen entstehen. Wer in einer langjährigen Partnerschaft oder einer eheähnlichen Gemeinschaft lebt, übernimmt typischerweise Schutzpflichten. Allerdings reichen lockere Beziehungen, Freundschaften oder bloße Wohngemeinschaften nicht aus, um eine Beschützergarantenstellung zu begründen.

Gefahrengemeinschaften

Besonders spannend sind die sogenannten Gefahrengemeinschaften. Wer sich gemeinsam in riskante Situationen begibt – etwa bei einer Bergsteigertour oder einer Polarexpedition – verspricht sich gegenseitig Schutz. Das bedeutet: Wenn jemand in Gefahr gerät, muss der andere helfen. Aber nicht jede Schicksalsgemeinschaft führt automatisch zu einer Garantenstellung. Wer beispielsweise zufällig mit anderen Schiffbrüchigen auf einer Insel strandet, ist nicht verpflichtet, sie zu retten.

Vertrage und tatsächliche Übernahme

Auch Verträge oder die tatsächliche Übernahme von Schutzaufgaben können eine Garantenstellung begründen. Ein Babysitter, der ein Kind betreut, übernimmt diese Rolle. Gleiches gilt für Ärzte, die sich bereit erklären, einen Notfall zu übernehmen – auch dann, wenn sie später doch nicht erscheinen. Diese Verpflichtung kann bereits durch die Zusage entstehen, wenn sich der Hilfsbedürftige darauf verlässt und deshalb keine anderen Rettungsmaßnahmen einleitet. Klassische Beispiele sind hier Bademeister, Pflegepersonal oder Bergführer, die durch ihre Rolle eine besondere Schutzverantwortung übernehmen.

Amtsträger

Schließlich gibt es die Gruppe der Amtsträger. Polizisten, Staatsanwälte oder andere Beamte können aufgrund ihrer dienstlichen Stellung zu Beschützergaranten werden. Besonders bei Polizeibeamten ist anerkannt, dass sie nicht nur Straftaten verhindern, sondern auch Bürger vor Gefahren schützen müssen. Diese Pflicht besteht jedoch nur während der Dienstausübung. Wenn ein Polizist privat von einer Straftat erfährt, muss er nur eingreifen, wenn die Tat besonders schwerwiegend ist und die öffentliche Sicherheit ernsthaft gefährdet.

Reichweite und Schutzpflicht

Die Reichweite und Intensität der Schutzpflicht hängen stets von den konkreten Umständen ab. Je enger die Beziehung oder je größer die freiwillig übernommene Verantwortung, desto umfassender ist die Verpflichtung, Gefahren abzuwenden. Eltern etwa können aus erzieherischen Gründen Kinder gewähren lassen, die sich leichten Körperverletzungsgefahren aussetzen.

Überwachungsgaranten

Wenn es um die Überwachungsgarantenstellung geht, bewegen wir uns im Bereich der Verantwortlichkeit für Gefahrenquellen. Während der Beschützergarant dafür zuständig ist, äußere Gefahren von einer Person oder einem Objekt fernzuhalten, hat der Überwachungsgarant die Aufgabe, die von einer Gefahrenquelle ausgehenden Risiken zu kontrollieren und deren Ausbreitung zu verhindern.

Die Unterscheidung zwischen Beschützer- und Überwachungsgaranten kann knifflig sein, aber für die Frage, ob jemand rechtlich verantwortlich ist, spielt diese Einteilung keine entscheidende Rolle. Viel wichtiger ist die dahinterstehende Idee: Beim Überwachungsgaranten geht es um die Pflicht, Gefahrenherde zu sichern. Diese Sicherungspflicht lässt sich in der Praxis oft klarer fassen als die Obhutspflicht des Beschützergaranten. Gerade weil beim Beschützergarant die persönliche Nähe, etwa durch familiäre Bande, eine größere Rolle spielt, braucht es hier häufig formale Kriterien zur Abgrenzung.

Verantwortlichkeit für Sachen als Gefahrenquellen

Wer Eigentümer oder Besitzer von Sachen ist, muss diese so überwachen und instand halten, dass keine Gefahren für andere davon ausgehen. Diese Verpflichtung orientiert sich an den zivilrechtlichen Verkehrssicherungspflichten. Dabei geht es nicht darum, jede noch so abstrakte Gefahr auszuschließen. Entscheidend ist, was ein umsichtiger Mensch in der konkreten Situation für erforderlich und zumutbar hält, um andere vor Schäden zu bewahren. Wer also ein Haus besitzt, ein Auto fährt oder ein Tier hält, trägt diese Verantwortung. Das Gleiche gilt für Menschen, die Baustellen, Freizeitparks oder andere Anlagen betreiben. Und genau wie beim Beschützergarant lassen sich diese Pflichten auf Dritte übertragen.

Ein Beispiel: Wenn ein Hauseigentümer sein Dach nicht im Blick hat und ein lockerer Ziegel einen Passanten trifft, kann das eine fahrlässige Körperverletzung oder Tötung durch Unterlassen sein. Auch ein Hundehalter, der es versäumt, seinen bissigen Hund zu sichern, kann sich strafbar machen. Ebenso trifft Kfz-Halter und Fahrer die Pflicht, ihr Fahrzeug in einem betriebssicheren Zustand zu halten und gegen unbefugte Nutzung zu schützen. Bei Veranstaltungen kommt die Pflicht hinzu, Zuschauer vor vorhersehbaren Gefahren zu bewahren. Hier verschwimmen die Linien: Ein Veranstalter kann sowohl Überwachungs- als auch Beschützergarant sein – schließlich lädt er Menschen ein und schafft so eine Schutzverpflichtung.

Eine besonders relevante Form der Überwachungsgarantenstellung ergibt sich für Unternehmer im Zusammenhang mit der Produkthaftung. Wer Produkte herstellt oder vertreibt, muss dafür sorgen, dass sie den anerkannten Regeln der Technik entsprechen und keine Gefahr für Verbraucher darstellen. Wenn sich nachträglich herausstellt, dass ein Produkt gefährlich ist, muss der Hersteller es zurückrufen oder warnen. Ignoriert er das, können sich Verantwortliche strafbar machen. Bekannte Beispiele sind Rückrufaktionen in der Automobilindustrie. Sobald ein Hersteller von Mängeln erfährt, die Unfälle verursachen können, muss er handeln – sonst droht eine Strafbarkeit wegen Körperverletzung oder Tötung durch Unterlassen.

Verantwortlichkeit für Personen als Gefahrenquellen

Hier geht es um die Frage, ob man für Straftaten anderer verantwortlich sein kann. Grundsätzlich gilt: Jeder Mensch ist für sein eigenes Verhalten verantwortlich. Dennoch gibt es bestimmte Aufsichtsverhältnisse, in denen eine Überwachungspflicht besteht.

Klar geregelt ist das bei Aufsichtspersonen, die für Menschen verantwortlich sind, die nicht oder nur eingeschränkt selbst verantwortlich handeln können – etwa Eltern für ihre Kinder oder Lehrer für ihre Schüler. Dabei hängt das Ausmaß der Pflicht vom Einzelfall ab. Eltern müssen ihre Kinder zwar vor Straftaten bewahren, aber sie sind nicht verpflichtet, sie anzuzeigen. Bei Lehrern endet die Verantwortung spätestens mit dem Schulbetrieb.

Auch bei erwachsenen und voll verantwortlichen Personen kann eine Überwachungspflicht bestehen, etwa bei militärischen Vorgesetzten oder Betreuern in geschlossenen Einrichtungen. Besonders umstritten, aber weitgehend anerkannt ist die Verantwortung von Unternehmern für ihre Betriebsangehörigen. Diese Verantwortung ergibt sich aus ihrer Organisationsherrschaft: Wer einen Betrieb führt, muss nicht nur sachliche, sondern auch personelle Gefahren verhindern. Das betrifft insbesondere betriebsbezogene Straftaten, wie etwa Betrug gegenüber Kunden oder Bestechung.

Ingerenz

Die Ingerenz-Garantenstellung besteht aus zwei wichtigen Elementen:

Zunächst einmal gibt es das typische Vorverhalten, bei dem eine Gefahrenlage entsteht, die eigentlich nicht hätte passieren dürfen. Diese Gefahrenlage fällt in den Verantwortungsbereich desjenigen, der sie geschaffen hat. Und genau diese Entstehung der Gefahr ist der erste Schritt – sie begründet die sogenannte Überwachungspflicht. Das zweite Element ergibt sich aus dieser Pflicht: Der Verantwortliche ist nun verpflichtet, alle Gefahren abzuwenden, die aus dieser Gefahrensituation resultieren und Leib und Leben bedrohen. Und das Ganze muss in einem Zusammenhang mit dem ursprünglichen Fehlverhalten stehen, das eine „nahe Gefahr“ des Eintritts dieser Gefahren geschaffen hat. Die Verknüpfung zwischen dem Vorverhalten und der späteren Gefahrschaffung muss also bestehen, und auch hier hilft die Lehre der objektiven Zurechnung, um diese Verbindung klarer zu fassen.

Die Verknüpfung eines pflichtwidrigen Vorverhaltens mit der Entstehung einer Ingerenz-Garantenstellung ist nicht schwer nachzuvollziehen, wenn der Täter durch fahrlässiges oder vorsätzliches Fehlverhalten eine andere Person in Gefahr bringt.

Ein typisches Beispiel wäre ein alkoholisierter Autofahrer, der einen Fußgänger anfährt und ihn dann einfach liegen lässt, um sich selbst nicht in Schwierigkeiten zu bringen. Oder jemand, der eine Reparatur nicht richtig durchführt und dadurch Gefahren aus Ingerenz schafft. Ebenso haftet derjenige, der durch Unachtsamkeit eine fremde Sache beschädigt oder zerstört, wenn er durch sein Verhalten eine tödliche Gefahr geschaffen hat.

Dabei wird das Unterlassen einer Handlung erst dann relevant, wenn die Gefahr durch das eigene Verhalten nicht mehr im Rahmen der vorherigen Tat erfasst ist. Ein Beispiel: Ein Täter, der durch aktives Tun eine vorsätzliche Tötung begeht, könnte später durch Unterlassen dafür verantwortlich gemacht werden, wenn er die Rettung des Opfers, das er zuvor angegriffen hat, unterlässt. Die Idee, dass der Täter nicht verpflichtet sein könnte, den Erfolg zu verhindern, wenn er ihn vorsätzlich herbeigeführt hat, geht in diesem Fall fehl.

Es ist auch wichtig zu verstehen, dass das Vorverhalten eines Angegriffenen im Rahmen von Notwehr oder Nothilfe grundsätzlich keine Ingerenz-Garantenstellung erzeugen kann. Derjenige, der sich in Notwehr verteidigt, kann nicht verpflichtet werden, das Leben seines Angreifers zu retten. Der Angreifer hat schließlich durch sein eigenes rechtswidriges Verhalten die Gefahr herbeigeführt, und daher fällt die Verantwortung für diese Gefahr in den Bereich des Angreifers und nicht in den des Verteidigers. Ein weiterer Punkt, der oft diskutiert wird, betrifft Fälle, in denen jemand durch sozialadäquates Verhalten eine Gefahr schafft. Auch hier liegt die Verantwortung nicht in einer Garantenstellung, weil es sich um allgemeine Lebensrisiken handelt, die jeder Mensch eingehen darf, ohne dafür eine besondere Pflicht zu tragen.

Doch was passiert, wenn jemand pflichtwidrig handelt, aber seine Handlung keine Auswirkung auf die Gefahrenlage hatte? Ein Beispiel dazu: Ein Autofahrer fährt mit 120 km/h auf einer Landstraße und erfasst einen Kleinkraftradfahrer. Der Unfall war auch bei einer niedrigeren Geschwindigkeit unvermeidbar, aber hätte der Autofahrer sofort ärztliche Hilfe geholt, wäre das Leben des Fahrers möglicherweise gerettet worden. In diesem Fall stellt sich die Frage, ob der Autofahrer für das Unterlassen der Rettung verantwortlich gemacht werden kann. Der BGH sagt ja, da der Fahrer durch sein Verhalten die Gefährdung des Opfers zumindest mitverschuldet hat, auch wenn der Unfall selbst unvermeidbar war. Die herrschende Meinung vertritt dagegen die Ansicht, die durch den Autofahrer geschaffene Lebensgefahr ist wegen deren Unvermeidbarkeit auch bei pflichtgemäßem Alternativverhalten nicht objektiv zuzurechnen, mithin kann eine spezielle Rechtspflicht zur Erfolgsabwendung nur entstehen, wenn ein Pflichtwidrigkeitszusammenhang besteht.

Ein weiteres Beispiel betrifft die eigenverantwortliche Selbstgefährdung. In einem typischen Fall wird jemand durch Drogenkonsum gefährdet und es wird versäumt, ihm zu helfen. Die Rechtsprechung ist hier eindeutig: Derjenige, der sich selbst in Gefahr bringt, kann nicht gleichzeitig noch für die Gefahrenlage verantwortlich gemacht werden, die durch das Verhalten eines anderen entstanden ist. Dies gilt auch dann, wenn ein Gastwirt alkoholische Getränke an einen offensichtlich betrunkenen Gast ausschenkt. Hier stellt sich die Frage, ob das Verhalten des Gastwirts pflichtwidrig war. Er kann nur dann verantwortlich gemacht werden, wenn der Gast wirklich nicht mehr Herr seiner Entschlüsse ist und die Trunkenheit klar erkennbar war.

Im Zusammenhang mit Ausnahmefällen muss der Gedanke berücksichtigt werden, dass aus einem rechtmäßigen Vorverhalten keine Garantenstellung erwächst. Wer sich jedoch durch einen Notstand in eine solche Lage bringt, ist dann doch als Garant verantwortlich. Wer also in einer Notsituation eine Gefahr geschaffen hat, muss dafür Sorge tragen, dass der Schaden nicht weiter wächst – auch wenn die Handlung ursprünglich gerechtfertigt war.

Und schließlich: Der Zurechnungszusammenhang. Es reicht nicht aus, nur eine Gefahrenlage zu schaffen, um strafrechtlich verantwortlich gemacht zu werden. Die Gefahr muss in direktem Zusammenhang mit dem Erfolg stehen, und der Zurechnungszusammenhang muss klar nachvollziehbar sein. Der Schutz des Rechtsguts muss durch das Vorverhalten tatsächlich gefährdet worden sein.

Entsprechungsklausel

Die Entsprechungsklausel hat eine eher geringe Bedeutung. Es ist klar, dass sie keine Gesamtbewertung der Tat vornehmen soll. Besonders bei reinen Erfolgsdelikten, wie etwa Mord (§ 212 StGB), Körperverletzung (§ 223 StGB) oder Sachbeschädigung (§ 303 StGB), wird die pflichtwidrige Nichtabwendung des Erfolges durch einen Garanten in der Regel genauso behandelt wie das aktive Herbeiführen des Erfolges. Deshalb kann man sagen, dass die Entsprechungsklausel in diesen Fällen keine wesentliche Rolle spielt.

Anders sieht es bei verhaltensgebundenen Erfolgsdelikten aus. Diese Delikte verlangen nicht nur den Erfolg, sondern auch eine bestimmte Handlungsweise. Genau hier wird die Entsprechungsklausel besonders relevant. Sie hilft, eine Modalitätenäquivalenz zu prüfen. Ein Klassiker: Mord mit Heimtücke und Grausamkeit (§ 211 StGB), der hinterlistige Überfall (§ 224 Abs. 1 Nr. 3 StGB), die rohe Misshandlung (§ 225 Abs. 1 StGB), Gewalt und Drohung (§ 240 StGB) oder Täuschung (§ 263 StGB). Bei diesen Taten ist die Entsprechungsklausel wichtig, weil sie sicherstellen soll, dass eine Unterlassungshandlung mit einer aktiven Handlung in etwa gleichwertig ist.

Wenn etwa eine Mutter ihr Kind grausam verhungern lässt, dann ist sie durch ihre Unterlassung genauso verantwortlich wie ein Täter, der aktiv eine grausame Handlung begeht. Doch das ist nicht in jedem Fall so. Wenn ein Garant es nur zulässt, dass jemand anders eine solche Tat begeht, wird die Sache schon komplizierter. Dann muss man sich fragen, ob das Geschehenlassen eines grausamen Mordes oder einer rohen Misshandlung wirklich dieselbe rechtliche Bedeutung hat wie das aktive Handeln des Täters. Häufig ist das nicht der Fall, besonders wenn dem Unterlassungstäter die erforderliche Gesinnung fehlt, etwa bei Grausamkeit oder roher Misshandlung.

Rechtfertigende Pflichtenkollision

Die rechtfertigende Pflichtenkollision ist ein spezifischer Rechtfertigungsgrund für Unterlassungsdelikte, bei dem der Täter mit mehreren konkurrierenden rechtlichen Handlungspflichten konfrontiert ist. Um die Kollision zu lösen, muss der Täter eine der Pflichten erfüllen, was dazu führt, dass er zwangsläufig eine andere Pflicht verletzt. Grundsätzlich unterscheidet man dabei zwei verschiedene Szenarien: Es gibt entweder gleichwertige oder ungleichwertige Pflichten, die miteinander konkurrieren.

Um festzustellen, ob die Pflichten gleichwertig sind, muss man vor allem auf die betroffenen Rechtsgüter und den Grad der Gefährdung schauen. Ein weiterer entscheidender Faktor ist die Stärke der individuellen Pflichtenbindung. Denn nach der herrschenden Meinung muss auch die Bedeutung der Pflicht berücksichtigt werden, die der Täter als Garant oder gemäß § 323c Abs. 1 StGB zu erfüllen hat. Der Wortlaut von § 323c Abs. 1 StGB, der „anderen wichtigen Pflichten“ den Vorrang einräumt, legt bereits nahe, dass Garantenpflichten hier eine höhere Bedeutung haben können.

Wenn also den Täter gleichwertige Pflichten treffen – sei es als Garant oder als Hilfspflichtiger gemäß § 323c Abs. 1 StGB – dann hat er die freie Wahl, welche Pflicht er erfüllt. Das bedeutet, dass er die Pflicht, die er nicht erfüllt, aufgrund der Pflichtenkollision gerechtfertigt verletzen kann. Das Recht verlangt in so einem Fall nicht die Erfüllung einer unerfüllbaren Pflicht und missbilligt das Verhalten nicht als rechtswidrig.

Anders sieht es bei ungleichwertigen Pflichten aus. Hier muss der Täter die höherwertige Pflicht erfüllen. Nur dann liegt eine rechtfertigende Pflichtenkollision vor. Es gibt also eine klare Rangfolge der Pflichten, bei deren Verletzung nur die vernachlässigte Pflicht gerechtfertigt werden kann.

Ein Beispiel zur Verdeutlichung: Der Vater V steht vor der Wahl, eines seiner beiden ertrinkenden Kinder, T oder S, zu retten. Er entscheidet sich für T. Da es ihm möglich gewesen wäre, auch S zu retten, handelt V hinsichtlich der §§ 212, 13 StGB objektiv und subjektiv tatbestandsmäßig. Ein Rechtfertigungsgrund nach § 34 StGB kommt nicht in Betracht, weil das Leben von T nicht mehr wiegt als das von S. Doch V kann die Pflichtenkollision dennoch gerechtfertigt auflösen, da er sich aufgrund der gleichwertigen Pflichten frei für die Rettung von T entscheiden konnte. In einer anderen Variante der Geschichte könnte die Entscheidung, T zu retten, darauf basieren, dass S der bessere Schwimmer ist und sich selbst retten könnte. Wenn S jedoch ertrinkt, wird die Lebensgefahr für T als größer angesehen, und eine Rechtfertigung nach § 34 StGB wäre durchaus denkbar. Eine Rechtfertigung nach § 34 StGB für die Entscheidung zugunsten von S, unter der Annahme, dass T in größerer Gefahr ist, könnte jedoch scheitern. Hier greift die rechtfertigende Pflichtenkollision in Bezug auf die §§ 212, 13 StGB für S, weil V die höherwertige Pflicht befolgt hat.

Die Corona-Krise hat die Diskussion um die rechtfertigende Pflichtenkollision neu angestoßen, insbesondere in Bezug auf Triage-Situationen, die Ärzte bei einer begrenzten Anzahl von lebensrettenden Ressourcen treffen müssen. Hier geht es vor allem um die Frage, welche Patienten in den Genuss einer Beatmung kommen, wenn nicht genug Geräte für alle vorhanden sind.

In der ersten Fallgruppe, der „ex ante-Konkurrenz„, übersteigt die Zahl der Patienten die Anzahl der verfügbaren Beatmungsgeräte. Der Arzt ist für jeden Patienten Garantenpflichtig, und in einem solchen Fall kann er frei entscheiden, welchem Patienten er das Beatmungsgerät zuweist, da die gleichwertigen Pflichten die Wahl des Arztes ermöglichen. Es gibt keine strafrechtlichen Bedenken, auch wenn eventuell Auswahlkriterien wie Geschlecht oder Alter verfassungsrechtlich bedenklich sind.

In der zweiten Fallgruppe, der „ex post-Konkurrenz„, stellt sich die Frage, ob ein Arzt die intensivmedizinische Behandlung eines Patienten abbrechen darf, um einem anderen Patienten, der größere Überlebenschancen hat, die notwendige Behandlung zu ermöglichen. Hier konkurrieren eine Unterlassungspflicht („Töte nicht durch das Abbrechen der Beatmung“) und eine Behandlungspflicht („Rette den Notfallpatienten“). Nach der herrschenden Meinung stellt der Abbruch der Beatmung eine aktive Handlung dar, die nur durch § 34 StGB gerechtfertigt werden kann. Doch auch hier gibt es kritische Stimmen, die den Fall eher als Unterlassungsdelikt sehen und eine Parallele zur „ex ante-Konkurrenz“ ziehen. Diese Stimmen warnen jedoch vor den rechtlichen und gesellschaftlichen Konsequenzen, wenn gerettete Patienten und ihre Familien Angst haben müssten, dass sie zugunsten anderer Patienten erneut dem Tod überlassen werden.

Unzumutbarkeit normgemäßen Verhaltens

Die Unzumutbarkeit normgemäßen Verhaltens stellt einen besonderen Entschuldigungsgrund dar, der vor allem im Kontext von unechten Unterlassungsdelikten relevant ist. Hier erkennt die herrschende Meinung an, dass die Pflichterfüllung dann unzumutbar wird, wenn der Garant durch das notwendige Handeln in erheblichem Maße eigene, billigenswerte Interessen gefährden würde. Dabei muss das Gewicht der Interessen, die der Täter zugunsten der Rettung aufgeben soll, im Verhältnis zu dem drohenden Erfolg stehen. Es wird also eine Abwägung vorgenommen, bei der nicht nur die Rettungschancen, sondern auch die widerstreitenden Interessen und der Grad der drohenden Gefahren berücksichtigt werden.

Ein Beispiel: T befindet sich in einer Situation, in der er aus einem brennenden Elternhaus entweder seinen 48 Jahre jüngeren Bruder B oder seine geliebte Freundin F, mit der er eine Heirat plant, retten kann. Wenn T sich für F entscheidet, so ist im Hinblick auf die §§ 212, 13 StGB zunächst die Frage der Rechtfertigung durch § 34 StGB zu prüfen, die jedoch nicht eingreift. Auch die Annahme einer rechtfertigenden Pflichtenkollision lässt sich hier nicht bejahen. Vielmehr kommt eine Entschuldigung nach § 35 StGB in Betracht, auch wenn diese eher schwer zu begründen ist. Die Zumutbarkeit, B zu retten, obwohl die Interessen des T an einer Heirat ein größeres Gewicht haben, führt dazu, dass man die Rettung des B zu Lasten von F als unzumutbar ansieht.